Dienstag, November 19

Viele minderjährige Asylbewerber, die ohne Eltern nach Europa reisen, sind in einem besorgniserregenden psychischen Zustand. Das ist auch für die Schweiz eine grosse Herausforderung.

Wie angespannt die Lage im Migrationsbereich trotz leicht rückläufigen Asylzahlen noch immer ist, zeigt die Aufregung um einen Vorfall, der sich am Wochenende im Kloster Einsiedeln abgespielt hat: Ein 17-jähriger Asylbewerber hat am Samstagnachmittag in der Gnadenkapelle die schwarze Madonna beschädigt, ein Wahrzeichen des Klosters. Gemäss einer Medienmitteilung des Klosters entkleidete der junge Mann die Madonnenfigur in Gegenwart vieler betender Pilgerinnen und Pilger. Die Madonna, die aus dem 15. Jahrhundert stammt, habe dabei leichten Schaden genommen. Zahlreiche Medien berichteten darüber.

Der Asylbewerber soll aus Afghanistan kommen und verwirrt gewesen sein. Einen politischen oder religiösen Hintergrund scheint der Vorfall gemäss den bisherigen Informationen nicht zu haben. Weil der Jugendliche geistig verwirrt gewesen sei, sei er von der Polizei schliesslich in eine medizinische Institution gebracht worden, schrieb der «Bote der Urschweiz» am Samstag. Die SVP nutzte den Vorfall dennoch, um die Kampagne gegen kriminelle Asylbewerber und für die Grenzschutz-Initiative sogleich voranzutreiben. «Schockierende Entwicklung aufgrund falscher Toleranz», schrieb der SVP-Fraktionspräsident Thomas Aeschi auf X.

2023 kamen so viele UMA wie noch nie

Die Episode in Einsiedeln scheint sich allerdings gemäss den bisher bekannten Umständen nicht um die irreguläre Migration aus sicheren Staaten zu drehen, welche die SVP zu Recht zum Thema macht. Vielmehr geht es um einen tragischen Einzelfall, der allerdings auf ein anderes, ebenfalls wachsendes Problem hindeutet: Die Zahl der minderjährigen Asylbewerber, die oft ohne erwachsene Begleitung nach Europa kommen, hat in den letzten Jahren stark zugenommen. 2023 sind so viele unbegleitete minderjährige Asylbewerber (UMA) in die Schweiz gekommen wie noch nie zuvor.

Derzeit ist die Zahl zwar rückläufig, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) kürzlich mitteilte: In den Bundesasylzentren sei die Zahl der UMA von 1500 im September 2023 auf 600 Personen zurückgegangen. Vergleicht man die Zahlen allerdings über eine längere Periode, sind sie noch immer hoch. Vor zehn Jahren sind knapp 800 UMA in die Schweiz gekommen, was 3,3 Prozent aller Gesuche entsprach. 2013 waren es 3271 UMA, das sind knapp 11 Prozent aller Gesuche. Der grösste Teil ist männlich und zwischen 16 und 18 Jahre alt. Zahlen aus dem laufenden Jahr liegen noch nicht vor.

Gigantische Aufgabe für Europa

Die meisten UMA – beinahe 70 Prozent – kamen im letzten Jahr aus Afghanistan, jenem Land also, aus dem auch der Störer von Einsiedeln kam. Überdurchschnittlich viele UMA sind psychisch angeschlagen oder traumatisiert. Erstaunlich ist dies nicht: Viele von ihnen haben bereits in ihrer Heimat traumatische Erlebnisse durchgemacht. Auf der Flucht kommen sie oft mit Gewalt, Drogen oder Kriminalität in Kontakt. Und in Europa müssen sie sich – ohne Eltern – in einer völlig neuen Kultur zurechtfinden, in einem Land, dessen Sprache sie nicht beherrschen und dessen Alltag sie nicht verstehen. Eine aktuelle Erhebung der Eidgenössischen Migrationskommission kommt deshalb zu dem Schluss, dass der psychische Zustand vieler UMA besorgniserregend sei.

In einem Interview mit der NZZ sagte auch der Basler Migrationsexperte Beat Stauffer vor diesem Hintergrund, er halte die wachsende Zahl von UMA für eine Entwicklung, die Europa schon bald überfordern könnte. Seine Aussagen bezogen sich zwar vor allem auf Jugendliche aus den Maghrebstaaten, doch sie treffen auf Personen aus kriegsversehrten Herkunftsländern erst recht zu: Eine gute Betreuung von Jugendlichen, die einen ganz anderen kulturellen Hintergrund haben, eine miserable Schulbildung aufweisen und derart krasse Erfahrungen hinter sich haben, sei extrem aufwendig, sagte Stauffer. Es werde deshalb in Europa schon bald zu einer Überforderung kommen, wenn die Zahl der neu ankommenden Minderjährigen im Rhythmus der letzten Jahre ansteige.

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