Mittwoch, Oktober 9

Wer die USA mit dem Auto bereist, landet früher oder später in einem Motel. In der bescheidenen Unterkunft mit ihrem heruntergekommenen Charme trifft man auf ein anderes Amerika.

Entlang der amerikanischen Highways begegnet man einem Land, wie man es in New York, L. A. und San Francisco nicht mehr trifft. Der Alltag hier hat wenig zu tun mit dem Leben in der Grossstadt, wo die Leute den Kaffee mit Hafermilch trinken, ein Türsteher beim Klub-Eintritt zu angemessenem Verhalten mahnt und sich an Partys selbst Bartträger mit Pronomen vorstellen, um nicht falsch angesprochen zu werden.

Dieses andere Amerika wird versinnbildlicht vom Motel, einer uramerikanischen Institution. Das Wort «Motel» setzt sich zusammen aus «Motor» und «Hotel», was auch seinen Zweck bezeichnet: Die langgezogenen, ein- oder zweistöckigen Häuser bieten Autoreisenden eine niederschwellige Übernachtungsmöglichkeit, bevor es weitergeht. Hier findet man ein Bett mit vorgelagertem Parkplatz.

Motels sind der Inbegriff von Freiheit und Abenteuer. Auf einem Roadtrip kommt man nicht darum herum. Man hat auf schnurgeraden Strassen bei aufgedrehtem Radio Hunderte von Kilometern zurückgelegt, um abends von einem leuchtenden Schild angezogen zu werden, auf dem es «Melody Ranch Motel», «Death Valley Inn» oder «Motel 6» heisst.

Die Worte «No vacancy» signalisieren, dass man durchfahren kann. Sie stammen aus der Zeit vor dem Internet. Dass kein Zimmer frei ist, ist nicht weiter schlimm, da man ein Motel meistens nicht wegen seiner besonderen Lage oder der Inneneinrichtung auswählt. Deshalb ist auch Reservieren unnötig. Ein Motel liegt am Weg. Man nimmt, was kommt. Auf zum nächsten.

Orte des Unheils und des Unheimlichen

Viele Motels in den USA haben die besten Zeiten hinter sich. Gerade dieses Schäbige und Verlebte macht ihren Charme aus. In Luxushotels wird einem vorgetäuscht, man dürfe die ersten Spuren hinterlassen. Alles wirkt unberührt, steril und sauber bis zur Schleife um den WC-Deckel. Betritt man hingegen ein Motel-Zimmer, glaubt man die Geschichten zu riechen, die sich in den vier Wänden abgespielt haben.

Tisch und Stuhl, zwei Plastikkleiderbügel, grosses Bett mit dicker Matratze, in der man Leben wähnt. Spannteppich. Der kleine, eingehegte Pool vor dem Fenster liegt bei 40 Grad verlassen da. Ein paar Strassen weiter ein Waffenshop. Durch die dünnen Wände hustet es die ganze Nacht. Linker Hand ein rätselhaftes Möbelrücken.

Die Gäste, die in ihren Wohnmobilen übernachten, stopfen sich beim Frühstück die Taschen ihrer XXL-Hosen voll mit den verpackten Keksen und schlürfen schweigend Filterkaffee aus Pappbechern. Die Leute an der Rezeption der oft von Familien geführten Motels: freundlich, wie es die Amerikaner sind. Zum Abschied schüttelt einem immer ein Bill oder eine Susan die Hand und wünscht eine gute Weiterfahrt.

In Motels begegnet man der Vergangenheit, weil sie an Filme und Romane erinnern, deren Stimmung sie prägen. Deshalb romantisiert man sie. Sie sind Teil der amerikanischen Pop-Kultur, meist Orte des Unheils und des Unheimlichen. Das Bates Motel in Alfred Hitchcocks «Psycho», wo Janet Leigh sorglos ihre Dusche nimmt.

In «Fargo» der Coen-Brüder und «Lost Highway» von David Lynch dient das Motel als Versteck für Verbrecher und heimliche Liebespaare. Ridley Scott lässt die Freundinnen Thelma (Geena Davis) und Louise (Susan Sarandon) im Oklahoma City Motel absteigen, wo Thelma von einem schönen Cowboy (Brad Pitt) verführt und ausgeraubt wird.

Man würde sich nicht wundern, hinter einem Fenster die reisende Frau im roten Kleid aus Edward Hoppers Gemälde «Western Motel» zu sehen. Wie sie auf einem Sofa sitzt, die Koffer stehen parat, vor dem Fenster wartet ihr Auto in der hellen Sonne. Motels ziehen Einsame an, die auf der Flucht vor sich selber sind.

Miranda Julys verwegene Liebessuite

Laut «New York Times» gab es 1964 über 61 ooo Motels in den Vereinigten Staaten. Sie wurden nach dem Bau des Fernstrassennetzes in den 1950er und 1960er Jahren so beliebt: Interstate Highways durchqueren seither teilweise das ganze Land von Nord nach Süd und West nach Ost. Heute soll es noch ungefähr 16 000 Motels geben.

Doch nun hätten Motels gerade einen Moment, titelt die Zeitung. Jüngere Leute entdeckten die Motel-Kultur und ihre Ästhetik. Nicht bloss auf ihren Reisen, sondern sie bleiben hängen, kaufen ein heruntergekommenes Motel und lassen es renovieren. Auf Instagram bewundern Motel-Fans das aufgefrischte Design der ursprünglich bescheidenen Gasthäuser. Dieses wird ihnen auch in Fernsehserien wie «Motel Makeover» auf Netflix oder «Motel Rescue» verpasst.

Genauso feiert Miranda July das Motel in ihrem neuen Roman «Auf allen vieren». Die Ich-Erzählerin, eine Künstlerin, investiert ein Preisgeld von 20 000 Dollar, um ein billiges Motel-Zimmer in einem Vorort von Los Angeles neu einzurichten, wo sie auf ihrem Roadtrip gestrandet ist. Sie verwandelt es zur Suite mit duftenden Seifen, flauschigen Design-Handtüchern und Samt-Sesseln, um hier eine wilde Affäre zu erleben.

Die bourgeoisen Bohémiens ziehen in das Motel ein und übermalen seine wolkigen Wände und damit die darin konservierte Zeit. In den alten Motels aber geht das Leben weiter. Man bringt früh am Morgen den Schlüssel zurück und fährt los mit dem leisen Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein.

Exit mobile version