Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, lässt Migranten seit Monaten in demokratisch regierte Städte wie New York und Chicago transportieren. Diese sind, vor allem jetzt im eiskalten Winter, mit der Unterbringung und Versorgung überfordert.
Nicht nur in der Innenstadt, sondern auch in den Wohnquartieren sitzen sie am Strassenrand oder vor Einkaufszentren, wegen der Kälte in Decken gehüllt, oft mit Kindern, und betteln. Seit einiger Zeit prägen Migranten aus Venezuela das Strassenbild von Chicago. Englisch sprechen sie kaum. Meist haben sie auf Kartons gekritzelt, dass sie Geld zum Essen brauchen oder Arbeit suchen. Die kleinen Zelte der Obdachlosen in den Parks und unter Brücken sind in Chicago Alltag; nun, bei lebensgefährlichen Temperaturen von minus 20 Grad, gibt es jedoch deutlich mehr davon. An mehreren Orten in der Millionenstadt wurden Busse aufgestellt, wo sich Menschen, die auf der Strasse leben, aufwärmen können. Die meisten Migranten leben jedoch in überfüllten Notunterkünften, die dem Blick der Öffentlichkeit verborgen bleiben.
«Nacht-und-Nebel-Aktionen»
28 000 Migranten hat der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, nach eigenen Angaben seit August 2022 nach Chicago transportieren lassen. Er protestiert damit gegen die massive Einwanderung, deren Folgen vor allem die Gliedstaaten an der südlichen Grenze zu tragen haben. Abbott stellt sich auf den Standpunkt, dass demokratisch regierte Grossstädte wie New York oder Chicago, die sich als «sichere Häfen» für Immigranten anpreisen, diese konsequenterweise auch aufnehmen sollen.
Das Problem ist, dass diese Abschiebungen offenbar kaum koordiniert sind. Der Bürgermeister von Chicago, Brandon Johnson, spricht von «Nacht-und-Nebel-Aktionen». So landete am 31. Dezember um 1 Uhr nachts ein Flugzeug mit 355 Migranten in Chicago. Es kam aus San Antonio in Texas. Unmittelbar nach der Landung bestiegen die Passagiere die bereitstehenden Busse, die laut der Zeitung «Chicago Tribune» von Abbotts Team organisiert und bezahlt worden waren, und fuhren in die Stadt. Offenbar waren der betroffene Flughafen Rockford und die Stadtverwaltung nur «minimal» informiert worden.
Widerstand gegen Unterbringung in den Quartieren
Es war der zweite solche Flug. Der erste hatte am 19. Dezember 120 Migranten aus Texas nach Chicago gebracht. Laut einer Mitteilung der Chicagoer Stadtverwaltung waren die Flüge eine Reaktion von Abbott auf eine kürzliche Entscheidung der Stadt, Busunternehmen, die Migranten ausserhalb der definierten Orte und Zeiten abladen, zu büssen. In den letzten Wochen war es immer wieder zu solchen Aktionen gekommen. Allein seit dem 19. Dezember kamen laut der «Chicago Tribune» 75 Busse mit Migranten an, oft in Vororten oder an Bahnhöfen an der Stadtgrenze. Die Passagiere verfügten bereits über Billetts, mit denen sie dann ins Stadtzentrum fuhren. Auch in diesen Fällen wurde niemand über die Ankunft informiert.
Vor einem Jahr waren viele der Migranten behelfsmässig in Polizeiwachen und auf dem Flughafen untergekommen. Inzwischen leben laut dem Office of Emergency Management and Communications in Chicago 14 585 in 27 Notunterkünften. Rund 600 warten auf eine Platzierung; 53 von ihnen in Polizeiwachen, 241 am Flughafen O’Hare und rund 300 in einem Empfangszentrum. Die Unterbringung in Wohnungen gestaltet sich schwierig, unter anderem auch, weil sich in einigen Quartieren Widerstand gebildet hat. Die Abteilung für Stadtentwicklung schlug darauf vor, dass die Asylsuchenden in Vorstadthotels untergebracht werden. Aber im betroffenen Rosemont reagierte die Quartierverwaltung, indem sie die Steuern für Gäste, die mehr als einen Monat im Hotel logieren, um 1000 Dollar erhöhte und so das Projekt verunmöglichte.
Konflikt zwischen Gouverneur und Bürgermeister
Für Kontroversen sorgte auch der Plan der Stadtverwaltung, etwa 2000 Migranten in einer Zeltsiedlung in Brighton Park unterzubringen. Bei der vorgesehenen Fläche handelt es sich um Brachland. Aber Julia Ramirez, die Alderwoman, also Quartierverantwortliche, beschwerte sich, sie sei nicht über das Projekt informiert worden; das betroffene Gelände sei ein ehemaliges Industriegebiet und möglicherweise verseucht. Der Bürgermeister Johnson entgegnete, der Boden sei sicher für vorübergehende Unterkünfte. Kurz darauf widersprach ihm jedoch der Gouverneur von Illinois, J. B. Pritzker. Er sagte, die entsprechende Studie sei fehlerhaft, und verweigerte den geplanten Zuschuss des Gliedstaates.
Aufsehen erregte in der Vorweihnachtszeit der Tod eines Knaben in einem grossen Unterbringungszentrum für Neuankömmlinge in Chicago. Der Fünfjährige namens Jean Carlos Martinez Rivero lebte mit seiner Familie in der Kollektivunterkunft an der South Halsted Street. Weil er krank war, brachte ihn die Ambulanz ins Comer Children’s Hospital, wo er am 17. Dezember starb. In der «Chicago Tribune» sagten freiwillige Helfer, sie hätten die Behörden seit Wochen darauf hingewiesen, dass die Unterkünfte überbelegt seien und Windpocken und Atemwegserkrankungen grassierten. Es herrsche ein Mangel an Medikamenten und medizinischer Grundversorgung. Oft werde ihnen, den Helfern, der Zugang verweigert, und Kranke würden nicht ins Spital gebracht mit der Begründung, es sei zu teuer.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Bereits im August war ein dreijähriges Mädchen aus Venezuela auf der Fahrt von Texas nach Chicago im Bus gestorben. Als Ursache wurde eine Lungenentzündung angegeben. Offenbar verlassen aufgenommene Familien zum Teil die Unterkünfte, weil diese als Brutstätten für ansteckende Krankheiten gelten, und schlagen sich auf eigene Faust durch.
Der Bürgermeister Brandon Johnson gab die Schuld für die Todesfälle dem texanischen Gouverneur Abbott. Er sagte, die Migranten kämen oft schon krank an. «Wir haben es mit einem Gouverneur zu tun, der Familien in Busse setzt, ohne Schuhe und warme Kleider, hungrig, verängstigt, traumatisiert, und sie zu uns in die Kälte schickt.» Der Sprecher von Abbott entgegnete, Johnson solle besser Präsident Biden zur Rechenschaft ziehen, der nichts unternehme, um die südliche Grenze der USA zu sichern und dem Migrantenstrom Einhalt zu gebieten.