Dienstag, Januar 7

Vor 200 Jahren wurde in Zürich an bester Lage geschlachtet.

«Es ist fast ein Wunder zu nennen, dass bei einem Durcheinander, wo im beschränkten Raume 30 bis 40 Männer mit ebenso vielem Stück Vieh sich herumbalgen, wo geschossen, geschlagen und gestochen wird, wo hunderterlei Hantierungen mit Schlachtmessern zwischen den Stück an Stück am Boden liegenden Schlachttieren vorgenommen werden, sich nicht schon häufig Unfälle ereignet haben.»

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Diese fast schon tumultartig anmutende Szene aus einem Stadtratsbeschluss beschreibt die Zustände um 1900 im Schlachthof auf dem Walcheareal – dort, wo sich heute die kantonale Finanzverwaltung befindet. Ein Chaos also, bei dem sich bisweilen Dutzende von mit «Messern bewaffneten» Metzgern an einem Tierkörper zu schaffen machten.

Vier Jahrzehnte waren seit der Eröffnung des nach französischem Vorbild erstellten Baus vergangen. Damals hatte der Schlachthof noch über die Landesgrenzen hinaus Beachtung erhalten – im positiven Sinne. Verschiedene deutsche Städte erkundigten sich nach den Bauplänen des symmetrischen Fabrikbaus, in dessen Zentrum eine Rinderschlachthalle stand. Kleinere Hallen links und rechts davon waren für Schweine, Kälber und Schafe vorgesehen.

Aus kulturhistorischer Sicht war die Anlage eine Zäsur, ein erster Schritt in Richtung industrieller Fleischgewinnung.

Ehegericht und Schlachthof unter einem Dach

Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert fand das Schlachten mitten im Siedlungsgebiet statt. In der Zürcher Altstadt befand sich das Schlachthaus neben dem Rathaus am Limmatquai, das Fleisch verkauften die Metzger direkt vor Ort. Eine Zeitlang gab es gar eine Galerie, von der aus man dem Schlachtbetrieb zuschauen konnte. Im Dachstock des Gebäudes war das Ehegericht untergebracht – Fleischerei, Juristerei und Alltag waren auf aus heutiger Sicht kuriose Weise miteinander verbunden.

Doch längst nicht alle Tiere, deren Fleisch in den Kochtöpfen landete, wurden im Schlachthaus an der Limmat getötet. Noch Ende des 19. Jahrhunderts zählte die Stadt Zürich gegen dreissig private Schlachtlokale. Diese wurden vor allem für Kleinvieh wie Schweine und Schafe genutzt. In Hinterhöfen kamen Tiere für den Eigengebrauch unters Messer.

Die Idee eines zentralen Schlachtlokals kam aus Frankreich. Hier verfügte Napoleon Bonaparte um 1807/10 einen Schlachthofzwang und liess in Paris fünf spezifische Schlachthöfe erstellen. Dies unter anderem als Reaktion auf die schwindende Toleranz der Bevölkerung gegenüber den privaten Schlachtstuben.

Die fortschreitende Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte den Städten nicht nur enormes Bevölkerungswachstum. Beengte Wohnverhältnisse, mangelnde Hygiene und das noch grosse Unwissen über mögliche Konsequenzen davon führten immer wieder zu Seuchen. So kam es in der zweiten Jahrhunderthälfte in Zürich zu mehreren Cholera- und Typhusepidemien.

Vor diesem Hintergrund stellte der Schlachthof Walche eine gewaltige Modernisierung dar. Die Schlachtbank wurde aus dem damaligen Stadtzentrum verdrängt, das Schlachthaus am Limmatquai wich einer Fleischverkaufshalle, und der Stadtrat schrieb den hiesigen Metzgern fortan vor, in der Walche zu schlachten.

Der Schlachtprozess kam damit unter staatliche Kontrolle. Dazu gehörte auch die Fleischbeschau, die immer mehr an Bedeutung gewann. Man hatte erkannt, dass das Fleisch von kranken Tieren nicht bedenkenlos gegessen werden konnte.

Der Neubau ermöglichte auch, Schlachtbetrieb und Fleischverkauf räumlich voneinander zu trennen. Das einstige Schlachthaus am Limmatquai wurde 1866 durch einen Neubau mit Verkaufsständen ersetzt, der im Volksmund bald «Kalbshaxenmoschee» genannt wurde.

Die Stadt holt den Schlachthof ein

Um 1900 hatte die Stadt das einst ausserhalb liegende Walcheareal «eingeholt». Mit der Eingemeindung von elf Vororten hatte sich die Bevölkerungszahl verdoppelt. Die ehemaligen Gemeinden Enge und Aussersihl brachten eigene Schlachtlokale mit sich. Jenes in der Enge war ein grösserer Bau an der Sihl gegenüber dem heutigen Einkaufszentrum Sihlcity. Es blieb bis ins 20. Jahrhundert in Betrieb, da der Schlachthof Walche nicht gross genug war.

Wie schon beim Vorgängerbau in der Walche musste die Stadtgrenze verschoben werden, damit der Schlachthof beim Letzibach ganz auf Zürcher Boden zu stehen kommen konnte. 170 000 Quadratmeter Land hatte die Stadtregierung für die Anlage erworben – doppelt so viel also, wie das heutige Schlachthofareal. Die Stadt hatte grosse Pläne und liebäugelte mit der Idee, den Schlachtviehmarkt der Deutschschweiz an der Grenze zu Altstetten zu zentralisieren.

Ein neuer Schlachthof musste her, und zwar ausserhalb des Stadtzürcher Siedlungsgebiets. Das Ansinnen war nicht neu. Nur drei Jahre vor dem eingangs zitierten Stadtratsbeschluss hatte der Zürcher Gemeinderat eine Vorlage aber aus Kostengründen abgelehnt. Nun sollte es klappen: Am 1. August 1909 öffnete der grösste und modernste Schlachthof der Schweiz weitab vom Stadtzürcher Siedlungsgebiet, an der Grenze zur damals noch selbständigen Gemeinde Altstetten.

Nach mehreren missglückten Planungsschlaufen bewilligten die Stimmbürger 1903 schliesslich einen Kredit von 3,6 Millionen Franken. Zwei Jahre später genehmigte der Gemeinderat ein 3,8 Millionen Franken teures Projekt. Die effektiven Kosten für den Bau der später auch als «Industriekathedrale» bezeichneten Gebäude fielen allerdings mit fast 6 Millionen Franken deutlich höher aus als geplant.

Nie zuvor hatte die öffentliche Hand eine so komplexe Anlage erstellt. Sie bestand unter anderem aus Stallungen und Schlachthallen für die einzelnen Tiergattungen, aus einem Brühraum und einer Kuttelei für Schweine, aus Kühlhallen und der riesigen Verbindungshalle, welche das Areal bis heute prägt.

Der Stadttierarzt und Schlachthofverwalter Victor Allenspach schrieb 1933 anlässlich des 25-Jahr-Jubiläums des Schlachthofs: «Bei der Disposition der Anlage war der Grundgedanke leitend, die einzelnen Stadien des Schlachtprozesses in gerader ununterbrochener Linie aneinanderzureihen, Kreuzungen und Rückwärtsbewegungen zu vermeiden.» Die Tiere wurden also nicht mehr an einem Ort geschlachtet und verarbeitet, sondern an einer Hochbahn aufgehängt zu den einzelnen Arbeitsstationen und schliesslich in den Kühlraum gefahren.

Maradona, der ausgebüxte Muni

Eine grosse Wiese südwestlich des Schlachthofs blieb ungenutzt. Die Stadt verpachtete sie ab 1925 dem damals noch polysportiv ausgerichteten FC Zürich.

Dank der Nähe zum Schlachthof wurde der Zürcher Fussballklub Ende der 1990er Jahre unverhofft zum sicheren Hafen für einen der Schlachtbank geweihten Muni. Dieser büxte aus, rannte quer über die Strasse und auf das Trainingsgelände.

Der Vizepräsident des FCZ war so begeistert, dass der Klub den Muni kurzerhand kaufte und zum Maskottchen machte. Sein Name lautete fortan Maradona.

Doch Maradona war unwillig, seine aktive Maskottchenkarriere kurz – der Muni blieb auch mit einem Fanschal um den Bauch unkooperativ. Sein erster Auftritt endete mit einem Spurt auf die Zuschauertribüne. Der FCZ schickte Maradona daraufhin ins Kloster Fahr und schliesslich in ein Pferdealtersheim im Jura.

Weniger Glück als der Muni Maradona hatte ein anderer Stier. Auch ihm gelang die Flucht, die ihn durch drei Stadtkreise und einen Tunnel führte. Sie endete allerdings mit einem demolierten Polizeiauto und einem Schuss aus dem Gewehr eine Wildhüters.

Eine Ära geht zu Ende

Stand der Schlachthof bei seiner Eröffnung noch allein auf weiter Flur, lag er bald mitten in der Stadt – formal durch die Eingemeindung Altstettens 1934 und buchstäblich durch immer neue Wohnhäuser. Wie schon der Schlachthof Walche liegt der Schlachthof beim Letzigrund heute in einem Wohnquartier – und hatte über die Jahre immer wieder mit Beschwerden aus der Anwohnerschaft zu kämpfen.

Insbesondere die auf dem Areal beheimatete Centravo AG, welche Schlachtabfälle wie Fette, Häute und innere Organe weiterverarbeitete, hatte bei der Stadt Zürich wegen Klagen über unangenehme Gerüchte einen schwierigen Stand.

In den nuller Jahren verliess das Unternehmen den Standort in Altstetten. Die Stadt will auf dem Centravo-Areal ein Hochhaus erstellen, in das nebst einem Stützpunkt für Feuerwehr und Sanität auch das Stadtarchiv einziehen soll. Voraussichtlich 2027 kommt das Vorhaben an die Urne.

Verblieben ist bis heute die Schlachtbetrieb Zürich AG. 2029 geht die Ära des Schlachtbetriebs in Altstetten aber definitiv zu Ende. Das hat der Stadtrat 2015 beschlossen. Wie es mit dem Areal weitergeht, ist – mit Ausnahme des ehemaligen Centravo-Geländes – offen. Im Dezember hat die Stadt eine Dialogveranstaltung mit durchgeführt. Dabei wurden Ideen und Wünsche aus der Bevölkerung zusammengetragen. Die Liste ist lang: Wohnungen, Gewerbe- und Atelierräume, Parkanlagen bis hin zu einem «tiny forest».

Gänzlich frei ist die Stadt in Sachen Gestaltung aber nicht. Ein Teil der Schlachthofgebäude steht seit den 1980er Jahren unter kantonalem Denkmalschutz. Um Wohnungen erstellen zu können, wäre zudem eine Umzonung notwendig.

Die Schlachtbetrieb Zürich AG ist derweil auf der Suche nach einem neuen Standort. Der Fokus dürfte auf Gebieten liegen, die keine Wohnquartiere sind. Das 1986 aus dem Metzgermeisterverein hervorgegangene Unternehmen würde damit in die «Fussstapfen» von Zürichs früheren Schlachthäusern und -höfen treten.

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