Freitag, März 14

Schilderungen von Geiseln zeigen, wie sie der psychisch labile Iraner im Regionalzug in Schach gehalten hat. Sein Migrationsparcours verlief chaotisch.

Kurz nach 22 Uhr war am Donnerstagabend die Geiselnahme im Regionalzug vorbei. Doch die juristische und politische Aufarbeitung des Falles hat gerade erst begonnen. Laufend kommen neue Erkenntnisse über den von der Polizei erschossenen Täter zum Vorschein – und über das, was sich während vier quälend langen Stunden in Essert-sous-Champvent bei Yverdon abgespielt hat.

Am eindrücklichsten sind die Schilderungen eines Waadtländers, der zusammen mit zwölf anderen Personen in der Gewalt des Geiselnehmers war. Wie er dem Westschweizer «Blick» erzählt, war er einer der «Ansprechpartner» des 32-jährigen Asylbewerbers aus Iran.

Weil er mit Kopfhörern einen Film geschaut habe, habe er die Dramatik der Situation zuerst nicht erfasst, sagt der passionierte Sportler. Als mehrere Passagiere «sichtlich gestresst» vom hintersten in den vordersten Wagen gegangen seien, habe er sich gewundert, sich danach aber wieder dem Handy gewidmet – und deshalb nicht gehört, dass der Geiselnehmer auch ihn zum Aufstehen aufgefordert habe.

Den Ernst der Lage erkannte der 37-Jährige erst, als er die Klinge einer Axt im Nacken spürte, sagt er. Da realisierte er, dass es «nicht der Moment zum Diskutieren» war und er sich, trotz schwarzem Gürtel in mehreren Kampfsportarten, ebenfalls in den vordersten Wagen des Zuges begeben sollte.

Er wetzte die Axt

Es folgten versteckte Notrufe der festgehaltenen Passagiere, ein massives Polizeiaufgebot am Bahnhof, Verhandlungen zwischen Spezialisten und dem offensichtlich verwirrten Geiselnehmer, psychologische Hilfe für die am Tatort eingetroffenen Angehörigen. Die Geiseln durchlebten derweil neben Phasen der relativen Ruhe immer wieder Momente grösster Anspannung.

Am schlimmsten sei gewesen, als der Täter die Geiseln gezählt habe, sie zu absoluter Ruhe aufforderte – und danach rund zwanzig Minuten lang seine Axt gewetzt habe, erzählt der Waadtländer.

Um 22 Uhr 15 hatte der Horror endlich ein Ende. Als sich der Geiselnehmer kurz von den Passagieren entfernte, stürmte eine Spezialeinheit der Polizei den Wagen und versuchte den Mann zuerst mit einem Taser zu neutralisieren. Gemäss Angaben der Polizisten näherte sich der Täter ihnen und den Geiseln aber weiter an, weshalb ein zweiter Beamter auf ihn schoss. Er verstarb noch am Tatort, während die Geiseln zumindest physisch unverletzt blieben.

Unzufrieden mit Asylstatus

In den folgenden Stunden veröffentlichte die Waadtländer Kantonspolizei erste Informationen über den Täter. Es handle sich um einen iranischen Asylbewerber, dessen Dossier dem Kanton Genf zugewiesen worden sei (was – wie auch die Anzahl der Geiseln – die Polizei zuerst falsch kolportierte). Auf einen terroristischen Hintergrund deute nichts hin, vielmehr sei der Mann mit seiner Situation als Asylsuchender unzufrieden gewesen. Zudem habe er den «hartnäckigen Wunsch» geäussert, mit einer Mitarbeiterin eines Asylbewerberzentrums in Kontakt zu treten.

Wie sich über die nächsten Tage zeigen sollte, war der Migrationsparcours des Mannes äusserst chaotisch verlaufen. Laut RTS stellte er ein erstes Asylgesuch in Griechenland, bevor er im August 2022 in der Schweiz auftauchte – womit gemäss Dublin-System Griechenland für das Asylverfahren zuständig wäre.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) bestätigt die Informationen nicht, es äussert sich aber zum allgemeinen Kontext. Weil Länder wie Italien oder auch Griechenland das Abkommen nicht korrekt umsetzen und Asylbewerber nicht zurücknehmen, geht die Dossier-Zuständigkeit nach Ablauf einer Karenzfrist an die Schweiz über. Gemäss SEM beträgt diese in der Regel sechs Monate.

In Psychiatrie eingewiesen

Gesichert ist, dass der Mann im November 2022 Genf zugewiesen worden ist. Laut dem kantonalen Sozialamt, das im Auftrag des Migrationsamts für die Unterbringung von Asylsuchenden zuständig ist, ist «schnell festgestellt worden», dass sein psychischer Zustand äusserst fragil gewesen sei. Er sei medizinisch betreut und im Frühling 2023 gar von Amtes wegen in eine Psychiatrieklinik eingewiesen worden.

Im Juni 2023 verschwand der Iraner ein erstes Mal, was der Kanton dem SEM meldete. Im September tauchte er wieder auf, nur um einen Monat später wieder unauffindbar zu bleiben. Im Januar dieses Jahres schliesslich meldete er sich plötzlich wieder in der Schweiz. Der Mann wurde in einem Genfer Übergangsheim einquartiert und sein Dossier reaktiviert.

Wo war er in der Zwischenzeit? Klarheit herrscht darüber nicht. Gemäss RTS hat er angegeben, sich in Grossbritannien aufgehalten zu haben, bis ihn die dortigen Behörden in die Schweiz zurückgeschickt hätten. Das SEM bestätigt dies nicht.

Gemäss Recherchen hat der Iraner zuletzt am 7. Februar gegenüber den Behörden ausgesagt, dass er keine medizinische Hilfe mehr brauche. Er habe eine schwierige Zeit durchlebt, die er nun hinter sich gelassen habe. Nur einen Tag später sollte er im Regionalzug zur Tat schreiten.

Fragen zur Schussabgabe

Seither ist in der Romandie die Geiselnahme nicht nur das grosse Gesprächsthema am Stammtisch, es wirft auch politisch Wellen. Den Vogel abgeschossen hat Mathilde Marendaz, eine Kantonsrätin der Linksaussenpartei Ensemble à Gauche. Wie der «Blick» zuerst meldete, schrieb sie am Freitagmorgen auf Instagram: «Die Waadtländer Polizei kann Situationen nicht bewältigen. Sie tötet.» Implizit bezog sie sich dabei auf umstrittene Polizeieinsätze der vergangenen Jahre, bei denen schwarze Personen ums Leben gekommen sind.

Nach wenigen Stunden löschte Marendaz ihren Eintrag wieder. «Ich habe gemerkt, dass ich meine Position detaillierter darlegen sollte», sagt sie auf Anfrage. In der Tat legte die Splitterpartei Solidarité et Écologie, der sie angehört, später mit einem ausführlichen Statement nach.

Darin drückt sie ihr Mitgefühl für die Geiseln aus, schreibt aber vor allem auch über das, was sie den «Ursprung der Gewalt» nennt. So müsse man sich fragen, ob nicht der «brutale und entmenschlichende Asylprozess» solche Taten erst hervorrufe. Kurz: Der Staat ist in dieser Lesart mitverantwortlich für die brutale Geiselnahme. Zudem will die Linkspartei wissen, warum der Polizist nicht auf andere Körperteile gezielt habe. Dass die Beamten zuerst einen Taser eingesetzt hatten, wird mit keinem Wort erwähnt.

Nationalrat wohnt in der Region

Diametral anders interpretiert die SVP Waadt die Hintergründe der Tat. Sie begrüsst den Polizeieinsatz ausdrücklich und geisselt im gleichen Atemzug den «konstanten Missbrauch des Asylsystems». Migranten, die «unter dem Deckmantel des Asyls» in die Schweiz gekommen sind, seien für eine «lange Liste von Straftaten» verantwortlich.

Nationalrat Yvan Pahud, der selbst in der Region wohnt und den betroffenen Zug schon unzählige Male genommen hat, will nun parlamentarisch aktiv werden. Mittels Interpellation will er vom Bundesrat Antworten zum nicht restlos geklärten Asylstatus des Geiselnehmers erhalten. Gleichzeitig müsse man das Asylwesen als Ganzes verschärfen. «Auch wenn die Mehrheit der Bewerber nicht kriminell wird, bleibt uns keine andere Lösung. Sonst müssen wir uns bald an solche Geiselnahmen gewöhnen», so Pahud.

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