Ein kollabierter Lufthansa-Co-Pilot, der allein im Cockpit sass, bringt die Diskussion um die Zwei-Personen-Regel wieder in Gang.

Es sah am Morgen des 17. Februar 2024 alles nach Routine aus. Der Lufthansa-Flug LH1140 war aus Frankfurt kommend gerade in den nordspanischen Luftraum eingeflogen, bei Saragossa musste der Flugkapitän aufs WC. Bis zur geplanten Landung in Sevilla war noch Zeit. Der Airbus A321 mit dem Kennzeichen D-AISO flog auf 10 000 Metern ruhig Richtung Andalusien, vom Autopiloten auf Kurs gehalten.

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Um 10.31 Uhr verliess der Pilot seinen Arbeitsplatz und suchte die Toilette vor dem Cockpit auf. Führung und Überwachung des Flugs lagen nun allein in den Händen des 38-jährigen Ersten Offiziers.

Doch 32 Sekunden nachdem der Pilot seinen Sitz im Cockpit verlassen hatte, geschah etwas völlig Unvorhersehbares. Der eben noch aufmerksam und nun allein vor Instrumenten und Steuerknüppel sitzende Co-Pilot handelte plötzlich erratisch und unkoordiniert. Der Mitte Mai 2025 veröffentlichte Untersuchungsbericht der spanischen Flugunfallermittlungs-Behörde CIAIAC beschreibt ausführlich die brenzlige Situation, in die das Flugzeug mit 205 Menschen an Bord dadurch geriet.

Innerhalb von 46 Sekunden gab der Erste Offizier vom rechten Sitz aus dem Flugzeug ungewollt erratische Kommandos. Er schaltete verschiedene Computer ab, trat dann plötzlich in seine Ruderpedale. Dabei handelt es sich um Inputs, die im Reiseflug nicht vorgesehen sind.

Daraufhin schaltete sich die sogenannte «Master Warning» ein, ein durchdringender Alarmton. Als Resultat der ungewollten Kommandos des Co-Piloten drehte sich die Maschine fünf Grad um ihre Längsachse und änderte ihre Flugrichtung um zwei Grad, beides konnte der weiter aktive Autopilot allerdings ausgleichen. Nicht einmal der Pilot auf der anderen Seite der Cockpit-Wand bemerkte eine Veränderung.

Pilot stand vor verschlossener Cockpit-Tür

Erst als der Kapitän nichtsahnend wieder Einlass ins Cockpit begehrte, wurde das Problem offenbar. Insgesamt fünfmal gab er vergeblich den Einlasscode in die Tastatur vor der Cockpit-Tür ein, der vorn einen Summton ertönen lässt und den verbliebenen Co-Piloten dazu veranlassen sollte, die Tür zu öffnen. Im täglichen Flugbetrieb ist dies ein so normaler Vorgang wie ein Klingeln an der Haustür.

Doch der Co-Pilot reagierte nicht. Auch Anrufe der Besatzung im Cockpit blieben unbeantwortet. Schliesslich gab der ausgesperrte Kapitän den in solchen Fällen üblichen Notfallcode ein, der innerhalb von 30 Sekunden die Tür automatisch öffnet.

Bevor es dazu kam, konnte nun offenbar doch der Co-Pilot wieder reagieren und liess den Kapitän bereits nach 12 Sekunden ein, wie Insider berichten. Der Mann auf dem rechten Sitz empfing seinen Kollegen blass und stark verschwitzt, machte unkoordinierte Bewegungen.

Der Erkrankte wurde aus dem Cockpit geführt und von einem mitfliegenden Arzt untersucht, die vorzeitige Landung in Madrid eingeleitet, wo das Flugzeug sicher ankam, vom Kapitän allein geflogen. Später sagte der Co-Pilot aus, er könne sich nur erinnern, wie er ohnmächtig geworden sei. Er war seinem Kollegen in den drei vorangegangenen Tagen auf dem gemeinsamen Umlauf durch Europa als motiviert und fokussiert positiv aufgefallen.

Glücklicherweise führte der unkontrollierbare Anfall des einzigen Manns im Cockpit nicht dazu, dass der Autopilot sich abschaltete. Dies, sagen Experten, hätte dramatische Folgen haben können.

Zwei-Personen-Regel wieder auf dem Tisch

Der spanische Untersuchungsbericht spricht eine klare Empfehlung aus: «Dieses Ereignis hat die Vorzüge der Anwesenheit eines weiteren Besatzungsmitglieds gezeigt, wenn einer der Piloten das Cockpit verlässt.» Wäre das hier der Fall gewesen, hätte das weitere Crewmitglied andere Kollegen alarmieren und die Cockpit-Tür öffnen können.

«Unter Aspekten der Flugsicherheit und der Gefahrenabwehr sollten die Fluggesellschaften die Risiken neu analysieren, die mit dem alleinigen Verbleib eines Piloten im Cockpit verbunden sind. Wir sprechen daher eine entsprechende Empfehlung an die Easa aus», so die spanischen Unfallermittler. Die zuständige europäische Flugsicherheitsbehörde Easa muss sich nicht danach richten, die erneute Diskussion darüber dürfte nach dem jüngsten Vorfall aber wieder aufkommen.

Die Easa hatte bereits einmal eine solche Regel für alle europäischen Airlines eingeführt – drei Tage nach dem Absturz des Germanwings-Flugs 4U9525 vom 24. März 2015. Der Co-Pilot Andreas Lubitz hatte damals ebenfalls allein im Cockpit gesessen und das Flugzeug in suizidaler Absicht absichtlich zum Absturz gebracht, er hatte zuvor den zurückkehrenden Piloten aktiv ausgesperrt. Alle 144 Insassen starben beim Aufprall in den französischen Alpen.

Danach musste laut der neuen Regel immer eine zweite Person, üblicherweise aus der Kabinenbesatzung, im Cockpit Platz nehmen, solange nur ein Pilot zugegen war. Die Absicht war, ein willentliches Aussperren ebenso zu verhindern wie einen möglichen Suizid.

Die Zwei-Personen-Regel ist eine Scheinlösung

Viele Piloten kritisierten diese Entscheidung: Das sei «purer Scheinaktionismus, der die Öffentlichkeit beruhigen solle», sagten damals deutsche Piloten nach Medienberichten. «Wenn ein Pilot will, kann er eine Maschine binnen zwei Sekunden abstürzen lassen», sagte einer 2015 der «FAZ». Und das Hin und Her einer zusätzlichen Person zwischen Kabine und Cockpit schaffe noch zusätzliches Gefahrenpotenzial, wandten andere Experten ein.

Schon im Sommer 2016 wurde die Regel zurückgenommen, die Entscheidung den Airlines selbst überlassen. Swiss und die gesamte Lufthansa-Gruppe setzten sie im Mai 2017 ausser Kraft. «Die Risiken, die durch die Anwesenheit dieser dritten Person im Cockpit entstehen, können tatsächlich grösser sein als die, dass ein Mitglied der Besatzung für kurze Zeit allein im Cockpit ist», erkannte die Easa 2016 nach gut einem Jahr. Zurzeit hat die Behörde keinen Überblick darüber, wie viele Gesellschaften in Europa an der Regel festhalten.

Bei amerikanischen Fluggesellschaften ist die Zwei-Personen-Regel weiter Standard. In Europa gab es bisher dagegen keine Bestrebungen, sie wieder verpflichtend einzuführen. Der spanische Untersuchungsbericht widerspricht der Notwendigkeit dafür beinahe schon selbst, indem er die Seltenheit solcher Handlungsunfähigkeit im Cockpit belegt. Demnach gab es innerhalb von sechs Jahren in den USA nach einer FAA-Untersuchung 39 Fälle. In Australien sind es im Schnitt 23 pro Jahr, und in Europa gab es insgesamt 287 Vorkommnisse zwischen 2019 und 2024.

Die häufigsten Ursachen waren Bewusstlosigkeit, neurologische oder Herzprobleme sowie Magen-Darm-Erkrankungen. Aber selbst die spanischen Ermittler räumen ein, dass die Fälle kaum je schwer verlaufen. Ein ernsthaftes Risiko für die Flugsicherheit stellen sie nicht dar.

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