Montag, September 30

ABB hat sich bei Ladesäulen verrannt. Nun wird der Bereich E-Mobility entrümpelt. Aber wo die Elektroauto-Skepsis wächst, ist die Nachfrage nicht garantiert.

Die Elektroauto-Euphorie ist verflogen. Aber wer schon eines besitzt, für den gibt es gute Nachrichten. Wenn man bescheiden ist. «Knapp ausreichend», so bezeichnet Michael Halbherr die Dichte an öffentlich zugänglichen Ladesäulen in der Schweiz und Deutschland. Wenn man sich klug anstellt oder das Navi die Route vernünftig berechnet, muss also niemand auf grosser Fahrt stranden.

Theoretisch. Leider geht es beim Laden um mehr als das blosse Vorhandensein der Säulen. Sonst wäre das Leben vieler Automobilisten einfacher. Und auch das von Michael Halbherr – denn er leitet den Geschäftsbereich E-Mobility, das Ladesäulengeschäft des Industriekonzerns ABB.

Nur 60 bis 70 Prozent aller Ladevorgänge an öffentlichen Säulen in der Schweiz und Deutschland sind nach Halbherrs Erfahrung erfolgreich. Der Rest schlägt fehl, zum Beispiel weil die Säule das Auto nicht erkennt oder weil die Bezahlung nicht funktioniert. Dann ist das Fahrzeug leer, aber der Fahrer geladen.

China ist Spitze – die Schweiz im europäischen Mittelfeld

Schlimmer geht immer. Trotzdem liegt Deutschland im EV Charging Index der Unternehmensberatung Roland Berger mit 70 Punkten in der globalen Spitzengruppe und die Schweiz mit 60 Punkten im europäischen Mittelfeld. Auf Basis einer weltweiten Umfrage bewertet der Index die Ladeinfrastruktur eines Landes, inklusive Grösse des Netzes und Kundenzufriedenheit. Musterschüler mit grossem Vorsprung und 82 Punkten ist China; die USA erreichen 70 Punkte.

«Die Verlässlichkeit der Ladevorgänge ist das grössere Problem als die Verbreitung der Säulen», sagt Halbherr. Er sagt es auch selbstkritisch, denn der 59-jährige Schweizer muss in der eigenen Firma Qualitätsprobleme lösen. Genau dafür wurde er im Frühjahr 2023 zum CEO der ABB E-Mobility gemacht. Die Probleme mit den Ladesystemen sind einer der wenigen Flecken auf der sonst weissen Weste des Industrieriesen. ABB wurde in letzter Zeit immer profitabler, aber die E-Mobility schreibt Verluste.

Theoretisch müsste Ladeinfrastruktur ein stabiles Wachstumsgeschäft in der grünen Energiewende sein. Elektroautos brauchen Ladesäulen so sehr wie Verbrenner die Tankstellen. Doch heute haben die Hersteller ein doppeltes Problem. Erstens die Nachfrage, denn die ist zumindest in Europa deutlich zurückgegangen. Sie hängt eng mit dem Absatz von Elektroautos zusammen – und der lahmt, auch wegen gestrichener Subventionen.

ABB beherrscht die Hardware, aber das reicht nicht

Seit etwa einem Jahr hinke der Verkauf von Elektrofahrzeugen weltweit den ursprünglichen Planungen weit hinterher, sagt Bernd Laux von der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Der Durchbruch in der Breite von elektrischen Nutzfahrzeugen, darunter schweren Lastwagen, verzögere sich um ein bis zwei Jahre. Darüber hinaus sei ABBs Produktportfolio vergangenes Jahr nicht mehr an der technologischen Spitze gewesen.

Denn insbesondere ABB leidet unter Verwerfungen, wie sie eine junge Technologie oft mit sich bringt: Es herrscht ein Durcheinander von Systemen, die nicht immer reibungslos funktionieren. Der Betrieb einer öffentlichen Ladesäule ist komplizierter, als man denken sollte. «Sie ist kein Verkaufsautomat, der gegen Münzeinwurf einen Schokoriegel ausspuckt», sagt Halbherr.

Eine Ladesäule ist eben mehr als eine überdimensionierte Steckdose in der Landschaft. Sonst wäre es einfach, denn mit Hardware zur Elektrifizierung kennt ABB sich aus. Halbherr zählt im Gespräch acht Problemfelder auf, von der Integration der Säule in das Stromnetz bis zu der Wartung und der Software, etwa für das Management der Auslastung der Ladesäulen.

Dabei geht es nicht um die kleine Wallbox daheim in der Garage des Einfamilienhauses, die mit dem im Haushalt üblichen Wechselstrom läuft. Zwar bietet ABB auch diese Wallbox an, aber sie steht nicht im Zentrum des Geschäfts und der Probleme.

Der Wildwuchs rächt sich

Stattdessen konzentriert sich der Konzern auf die grossen Schnellladesäulen, die mit Gleichstrom betrieben werden. Es gibt sie für Personenwagen, zum Beispiel an den Autobahnen und auf Parkplätzen. Für Busse stehen sie in den Depots und an Haltestellen, für Lastwagen in der Firmenzentrale und bei den Lagerhäusern. Diese Ladesäulen, die jeweils einen fünfstelligen Betrag kosten, müssen das Netz bilden, das flächendeckende Elektromobilität ermöglicht.

Doch in diesem Netz herrscht ein Wildwuchs aus unterschiedlichen Technologien und unterschiedlicher Software. Auch ABB war in die Falle getappt – was sich rächt, weil der Konzern in Europa und Nordamerika schon mehr als 50 000 dieser Säulen an über 10 000 Standorten aufgestellt hat. Damit ist ABB nach eigener Darstellung Marktführer.

Doch die Systeme waren zu kompliziert, zu verschieden und zu sehr auf individuelle Wünsche der Kunden ausgerichtet. Es ist eine grosse und teure Aufgabe, sie jetzt auf einen einheitlichen Stand nachzurüsten.

Tesla hat es richtig gemacht

Das schwierige «Kundenerlebnis» ist immer noch eine der grossen Baustellen der Branche. Die Bedienungen und Zahlungssysteme sind zu unterschiedlich. «Jeder Scooter, der auf dem Trottoir steht, wird über eine App gebucht. Die Steuerung per App wird auch die Zukunft bei Ladesäulen sein», davon ist Halbherr überzeugt. Doch vorerst zwingt ihn die neue EU-Verordnung zur Errichtung der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe (Afir), an neuen öffentlichen Säulen Geräte zum Bezahlen mit Kredit- und Debitkarten anzubieten – und später bis 2027 einen Teil des Bestandes nachzurüsten.

Halbherr bewundert Tesla. Dem amerikanischen Autobauer ist es gelungen, bei der Entwicklung seiner Ladesäulen eigene Standards durchzusetzen und sich nicht zu verzetteln. Tesla sei eben ein Tech-Unternehmen, wohingegen anfangs viele Konkurrenten, unter ihnen ABB, aus der Industrie oder der traditionellen Autobranche gekommen seien: «Wir haben zu viele Köche in der Küche zugelassen, was zu einer komplizierten Wertschöpfungskette führte», diagnostiziert er. Nicht ohne Grund sind heute viele der Wettbewerber Startups, die unbelastet planen können.

Mehr unternehmerischen Freiraum, das strebt auch der Konkurrent Siemens an. Der deutsche Konzern hat ebenfalls ein Ladesäulengeschäft. Nun will er es ausgliedern und in eine eigenständige Gesellschaft überführen, wie Siemens vor wenigen Tagen mitteilte. ABB hatte mit der E-Mobility schon vor einer Weile dasselbe getan, um die Einheit agiler zu machen. Der ebenfalls geplante Börsengang ist hingegen ausgesetzt (siehe Zusatz).

Die Komplexität aus den Systemen nehmen, mehr wie eine Tech-Firma denken – das soll nun die E-Mobility sanieren. Dafür wurden externe Manager angeworben, etwa ein Designer von Google. Investiert wird am meisten in das Angebot von Service und Wartung, um die Zuverlässigkeit zu steigern – dann in die Entwicklung von Software und erst dann in Hardware.

Das Produktportfolio sei in den vergangenen 18 Monaten praktisch komplett überarbeitet worden, kommentiert Mark Diethelm von der Bank Vontobel. Der Analyst erwartet, dass der ABB-Bereich nächstes Jahr unter anderem wegen der aufgefrischten, vereinfachten Modellreihen wieder auf einen profitablen Wachstumspfad zurückkehrt. Ein im Konzernkontext zufriedenstellendes Ergebnis prognostiziert der ZKB-Experte Laux derweil nicht vor 2026.

Der Boom geht weiter – aber in China

Die Wende findet in schwierigem Marktumfeld statt: Die Zeit der grossen Verkaufsmengen in Europa ist vorerst vorbei. Getrieben wurde sie von Ladenetzbetreibern wie Ionity oder Gofast. Jetzt leiden diese unter höheren Refinanzierungs- und Investitionskosten. Gleichzeitig sind Subventionen für den Netzaufbau ausgelaufen, zum Beispiel in Deutschland. ABB hofft, dass nun Qualität statt Volumen gekauft wird.

Tatsächlich wuchs die Zahl der öffentlich zugänglichen Ladesäulen vergangenes Jahr weltweit immer noch um mehr als 40 Prozent, wie die Internationale Energieagentur (IEA) erhoben hat. Davon entfielen 55 Prozent auf Schnellladestationen. Die schlechte Nachricht: Dieser Boom spielt sich vor allem in China ab – mehr als acht von zehn der Schnelllader wurden dort aufgestellt. Doch ABB versucht gar nicht erst, diesen Markt zu erschliessen. Beim dortigen Qualitätsniveau kommen die Schweizer nicht auf ihre Kosten.

Hingegen setzt die E-Mobility auf die Heimmärkte Europa und Nordamerika. Dort liege der Fokus nämlich auf Qualität, das schütze die Margen. Die USA seien sehr attraktiv, sagt Halbherr. Und nur mit der nötigen kritischen Masse in beiden Märkten lasse sich der Aufbau eines engen Servicenetzes rechtfertigen, um die Zuverlässigkeit zu garantieren.

So habe ein europäisches Unternehmen auch eine Chance, sich aus eigener Kraft zu behaupten: «Wir müssen eine Lade-Industrie bauen, die nicht von Subventionen abhängig ist», sagt Michael Halbherr. «Ich bin kein Fan des Verbrennerverbots. Die Elektrifizierung der Mobilität ergibt auch so Sinn.»

Die ABB E-Mobility muss nachladen

bet. · ABB hatte mit der E-Mobility grosse Pläne: Schon vor über zwei Jahren hätte die Sparte an die Börse gehen sollen – ähnlich, wie es mit dem Turbolader-Spin-off Accelleron geklappt hat. Doch weil sich die Probleme häuften, ist die Kotierung aufgeschoben. Der Spartenchef Frank Mühlon musste gehen und ist heute Divisionsleiter beim Zürcher Mischkonzern Bucher Industries.

Michael Halbherr, der als Verwaltungsratspräsident über das IPO wachen sollte, übernahm die Geschäftsleitung. Der Zürcher und ausgebildete Elektrotechniker hat selbst einige Firmen gegründet und steuert nun 1300 Mitarbeiter, ein Werk in Italien sowie Forschungsstätten in den Niederlanden und China. Seit Anfang 2023 agiert die E-Mobility innerhalb der ABB als eigenständige Gesellschaft – und hat von da an bis Mitte 2024 einen Betriebsverlust von kumuliert 308 Millionen Dollar eingefahren. Umsatzangaben werden nicht publiziert.

Auch in diesem Jahr wird die Kotierung nicht stattfinden. Das bestätigte der frühere ABB-Konzernchef Björn Rosengren im Sommer kurz vor seinem Abtritt. Nun hat sein Nachfolger Morten Wierod das Problemkind geerbt. Immerhin besteht keine Geldnot. Statt über die Börse beschaffte sich der Geschäftsbereich über Privatplatzierungen 525 Millionen Franken. Der Mutterkonzern hält weiterhin 75 Prozent.

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