Der amerikanische Präsident zieht im Gaza-Krieg eine dunkelrote Linie: Sollte Israel die letzte Hamas-Bastion im Süden angreifen, wird Washington bestimmte Offensivwaffen nicht mehr liefern. Der Ärger bei den Republikanern und in Jerusalem ist gross.
Joe Biden bezeichnete eine israelische Offensive auf Rafah bereits im März als «rote Linie». Nun macht der amerikanische Präsident klar, dass es ihm damit ernst ist. Bereits in den vergangenen Tagen legte das Weisse Haus eine grosse Waffenlieferung an Israel auf Eis. Darin vorgesehen waren unter anderem grosse Mengen an 2000-Pfund- und 500-Pfund-Bomben. Man wolle Jerusalem damit «einen Schuss vor den Bug» setzen, erklärte ein Regierungsmitarbeiter der «Washington Post» am Dienstag. Ein anderer meinte: «Israel sollte keine grosse Bodenoffensive auf Rafah starten, wo über eine Million Flüchtlinge ausharren, ohne woanders hingehen zu können.»
In einem Interview mit dem Fernsehsender CNN fand auch Joe Biden deutliche Worte. Er habe es dem israelischen Ministerpräsidenten und seinem Kriegskabinett klar gemacht: «Wenn sie auf Rafah vorrücken, werde ich die Waffen nicht liefern, die in der Vergangenheit in Ballungsräumen eingesetzt wurden.» Der amerikanische Präsident antwortete dabei auf eine spezifische Frage nach den berüchtigten 2000-Pfund-Bomben. Biden gestand ein, dass durch sie und andere Waffen unschuldige Zivilisten im Gazastreifen getötet wurden. Die USA würden deshalb nicht nur die Lieferung schwerer Bomben, sondern auch von Artilleriegranaten aussetzen. Ein Angriff auf Rafah sei «einfach falsch».
Netanyahu will zur Not mit Fingernägeln kämpfen
Der Zeitpunkt für die Warnsignale aus Washington ist kein Zufall. In den vergangenen Tagen zeichnete sich ab, dass eine Offensive auf Rafah kurz bevorstehen könnte. Am Montag forderte Israel rund 100 000 Einwohner im Osten der Stadt auf, ihre Häuser zu evakuieren. Am Dienstag übernahm eine israelische Panzerbrigade die Kontrolle über den Grenzübergang zu Ägypten im Süden des Gazastreifens. Gemäss der Nachrichtenagentur AP brach danach Panik in Rafah aus. Zehntausende von Flüchtlingen, die zuvor aus anderen Teilen des Gazastreifens vertrieben worden waren, brachen ihre Zelte ab und packten erneut ihre Sachen. Das grösste Spital stellte aufgrund der verstärkten Kämpfe seinen Betrieb ein.
Vor dem Krieg zählte Rafah knapp 300 000 Einwohner. Doch als Israel seine Bodenoffensive im Gazastreifen von Norden her ausweitete, flüchteten über eine Million Menschen in die Stadt im Süden, über deren Grenzübergang auch der grösste Teil der Hilfsgüter in die Enklave gelangte. Gemäss Israel verschanzen sich in Rafah jedoch auch die letzten vier Kampfbrigaden der islamistischen Hamas. Für Jerusalem ist der Krieg erst gewonnen, wenn auch diese Einheiten erledigt sind.
Bidens Interview sorgte in israelischen Regierungskreisen am Donnerstag deshalb für Ärger. Als implizite Antwort teilte Netanyahu auf dem Kurznachrichtendienst X eine frühere Rede von ihm. Kein internationaler Druck könne Israel dran hindern, sich zu verteidigen, sagte er darin. «Wenn Israel gezwungen ist, alleine stand zu halten, wird Israel allein stand halten.» Bereits am Montag soll Netanyahu in einem Telefonat gesagt haben: «Wir werden mit unseren Fingernägeln kämpfen, wenn wir müssen.»
Trump: «Er lässt Israel vollkommen im Stich»
Biden geriet am Donnerstag auch innenpolitisch unter Druck der Republikaner. Donald Trump, sein voraussichtlicher Herausforderer bei der Präsidentschaftswahl im November, sagte: «Was Biden mit Israel macht, ist beschämend. Er lässt Israel vollkommen im Stich.» Der republikanische Senator Tom Cotton rief derweil zu einem Amtsenthebungsverfahren gegen Biden auf. Die Demokraten hätten mit dem Impeachment gegen Trump 2019 den Präzedenzfall dafür geliefert. Ähnlich wie Trump gegenüber der Ukraine, halte Biden nun Militärhilfe für Israel zurück, um seine Wahlchancen zu erhöhen.
Nun wird sich zeigen müssen, ob Israel sich tatsächlich über Bidens Warnungen hinwegsetzt. Nach Einschätzungen von amerikanischen Regierungsmitarbeitern sollten die israelischen Streitkräfte noch über genügend Waffen in ihren Arsenalen verfügen, um eine Offensive auf Rafah durchführen zu können. Aber ein solcher Schritt könnte das Verhältnis zur Biden-Regierung und auch künftigen demokratischen Administrationen in Washington schwer belasten.
Wie verhängnisvoll der Krieg im Nahen Osten für Biden ist, zeigt sich diese Woche ganz deutlich. Er selbst bezeichnet sich gerne als «Zionist». Und seine emotionale Verbundenheit mit Israel ist vermutlich auch der Grund, warum er sich nach dem brutalen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober bedingungslos hinter Netanyahus Regierung stellte und alle Waffen lieferte, die sich Jerusalem wünschte. In einer Rede zur Erinnerung an den Holocaust versprach Biden am Dienstag noch, dass seine Unterstützung für Israel unerschütterlich sei. Er erinnerte daran, dass die Hamas diesen Krieg begonnen hat und man ihre Greueltaten nicht verharmlosen dürfe. Und nun zeigt sich Biden doch offen für eine der zentralen Forderung der propalästinensischen Protestbewegung in den USA: keine offensiven Waffen mehr für Israel.
Biden braucht die jungen demokratischen Wähler, um eine zweite Amtszeit im Weissen Haus verbringen zu können. Doch momentan muss er Wahlkampfauftritte an Universitäten aus Angst vor lautstarken Protesten meiden. Die linke Bewegung wirft Biden vor, mit den Waffenlieferungen einen Genozid an den Palästinensern zu unterstützen. Sollte eine Offensive auf Rafah die humanitäre Not im Gazastreifen noch weiter verschärfen, würde dies die Demonstrationen in Amerika weiter befeuern. Für seine Wiederwahl braucht Biden deshalb so schnell wie möglich eine Waffenruhe.