Donnerstag, November 13

Der Regierungschef Benjamin Netanyahu liegt nicht nur mit dem amerikanischen Präsidenten im Streit, auch seine Differenzen mit dem israelischen Verteidigungsminister treten immer klarer zutage. Der Dissens kommt zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt: Israel erwartet einen Grossangriff Irans und des Hizbullah.

«Hör auf, mich zu verarschen»: Klarer hätte die Ansage von Joe Biden an Benjamin Netanyahu nicht sein können. Laut übereinstimmenden israelischen Medienberichten vom Wochenende war dies die Antwort des US-Präsidenten, als Israels Regierungschef am Donnerstag in einem Telefonat mit ihm beteuerte, alles dafür zu tun, ein Geiselabkommen mit der Hamas voranzubringen.

Die Handlungen des israelischen Ministerpräsidenten widersprechen seinen Worten: So hat Netanyahu im vergangenen Monat weitere Bedingungen für ein Abkommen mit der Hamas gestellt. Unter anderem forderte er, dass Israel Abschnitte des Gazastreifens auch während eines Waffenstillstands besetzt halten dürfe.

Das Telefonat fand statt, kurz nachdem Israel mit zwei gezielten Schlägen den hochrangigen Hizbullah-Kommandanten Fuad Shukr und den Hamas-Politbüro-Chef Ismail Haniya ausgeschaltet hatte. Diese Tötungen – die erste in Beirut, die zweite in Teheran – haben die Spannungen im Nahen Osten massiv erhöht. Seitdem erwartet Israel einen Gegenangriff Irans und seines Stellvertreters in Libanon, dem Hizbullah. Es droht ein grosser Krieg im gesamten Nahen Osten.

Die an die konstante Gefahr gewöhnten Israeli bewahren noch die Ruhe. Der Strand von Tel Aviv war am Wochenende so gut frequentiert wie an anderen Tagen auch, die Menschen gingen aus und besuchten Restaurants. Doch in Gesprächen kommt immer die Frage auf: Wie schlimm wird es dieses Mal?

Israels Verteidigungsminister kritisiert offenbar Netanyahu

Während die Aufmerksamkeit der Israeli auf den Norden gerichtet ist, geht der Krieg im Gazastreifen unvermindert weiter. Nicht nur die USA kritisieren Netanyahu für die neuen Forderungen in den Verhandlungen mit der Hamas. Auch Israels Verteidigungsminister und seine Generale drängen auf ein Abkommen.

So berichtete der israelische Nachrichtensender Channel 12 am Samstagabend, Verteidigungsminister Yoav Gallant und Israels Generalstabschef Herzi Halevi hätten Netanyahu in einem Treffen vorgeworfen, mit den neuen Bedingungen ein Abkommen zu verunmöglichen. Aus der Perspektive der nationalen Sicherheit gebe es keinen Grund, ein Abkommen weiter hinauszuzögern, sagte Gallant laut dem Fernsehsender. Der israelische Ministerpräsident seinerseits bestreitet, das hauptsächliche Hindernis für eine fehlende Einigung zu sein. «Die Hamas versucht Dutzende Änderungen einzuführen, die ein Abkommen tatsächlich verhindern», teilte Netanyahus Büro am Samstagabend mit.

Israel braucht mehr Zeit für einen Krieg im Norden

«Die USA und das israelische Sicherheits-Establishment wollen aus verschiedenen Gründen ein Geiselabkommen», sagt Eitan Shamir, der Leiter des Begin-Sadat-Zentrums für Strategische Studien in Israel. Beide sähen, dass die Zeit für die Geiseln ablaufe. Doch während die USA endgültig Ruhe im Nahen Osten wollten, um sich auf die Ukraine und eine mögliche Konfrontation mit China zu konzentrieren, wollten die führenden israelischen Offiziere vor allem Zeit gewinnen, um sich auf einen Krieg im Norden vorzubereiten, meint Shamir.

«Israel braucht mehr Zeit, um in eine bessere Position zu kommen», sagt Eitan Shamir mit Blick auf einen möglichen vollständigen Krieg gegen den Hizbullah, in dessen Folge israelische Soldaten wohl auch in Südlibanon einmarschieren würden. «Vor allem die Reservisten müssen sich erholen und können nicht sofort wieder in einen grossen Krieg geschickt werden», sagt Shamir.

Beide Seiten, der Hizbullah und Israel, hätten zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Interesse an einem grossen Krieg, meint Eitan Shamir. Der Militärexperte geht daher davon aus, dass der gefürchtete Gegenschlag der Schiitenmiliz so kalibriert sein wird, dass Israel in der Folge nicht zu einem vollständigen Krieg gezwungen wird.

Die Unterstützung der USA ist sicher

Israel schmiedet derweil eine Allianz, um den Gegenschlag Irans und des Hizbullah abzuwehren. Als Iran Mitte April in einem beispiellosen Angriff über 300 Raketen und Drohnen nach Israel schickte, wurden nahezu alle Geschosse abgewehrt. Auch weil arabische Staaten wie Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate Informationen lieferten, Jordanien Drohnen über seinem Territorium abschoss und das britische und amerikanische Militär Israel unterstützte.

Die Rückendeckung der beiden westlichen Verbündeten ist weiterhin gesichert. Die USA haben zusätzliche Kampfjets und Kriegsschiffe in die Region geschickt, und US-Präsident Biden sagte Netanyahu in dem Telefonat zu, dass die USA Israels Verteidigung unterstützten.

Ein Vergeltungsschlag am Montag?

Es ist jedoch unklar, ob auch die arabischen Staaten Israel wieder zu Hilfe kommen werden. Der Anschlag auf Ismail Haniya in Teheran stiess in der arabischen Welt auf Ablehnung, Israel wurde als Akteur wahrgenommen, der eskaliert. In Israel zählt man allerdings weiter auf die Unterstützung der gemässigten arabischen Staaten.

«Staaten wie Jordanien haben sich zwar sehr kritisch über Israels Tötung von Ismail Haniya geäussert, aber die grösseren geopolitischen Interessen sind immer noch die gleichen wie im April», sagt Nimrod Goren, der Leiter der israelischen Mitvim-Denkfabrik für regionale Aussenpolitik. «Diese Länder befinden sich in einer stetigen Konfrontation mit der von Iran geführten ‹Achse des Widerstands› – und sie sind keine grossen Freunde der Hamas.»

Diese These könnte schon bald auf ihre Richtigkeit geprüft werden: Laut einem am Sonntag veröffentlichten Bericht des Nachrichtenportals Axios gehen hochrangige amerikanische und israelische Quellen davon aus, dass ein iranischer Vergeltungsschlag schon am Montag bevorstehen könnte.

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