Sonntag, Oktober 6

Nach der missglückten Debatte gegen Donald Trump versucht Joe Biden verzweifelt, das Ruder herumzureissen. Doch auch sein grosses Fernsehinterview konnte die Kritik in den eigenen Reihen nicht eindämmen. Die Zeit läuft momentan gegen den Präsidenten.

Mit Wahlkampfauftritten und einem Fernsehinterview wollte Joe Biden seine Kritiker über das Wochenende verstummen lassen. Doch selbst enge Verbündete konnte er damit nicht überzeugen. Am Sonntag sagte der demokratische Senator Chris Murphy auf CNN: «Der Präsident muss mehr tun.» Biden solle offene Fragestunden mit Wählern und Pressekonferenzen mit Journalisten abhalten, um das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen. Aber dies müsse nun schnell geschehen: «Die Uhr tickt.»

Das Fernsehinterview auf dem Sender ABC am Freitagabend galt bereits als Schicksalsstunde für den amerikanischen Präsidenten. Biden zeigte sich im Vergleich zur miserablen Debatte gegen Donald Trump in seinen Antworten und seinem Auftreten verbessert. Doch er habe den Sinn für die Realität verloren, schrieb Obamas früherer Wahlkampfstratege David Axelrod danach in einem Kommentar mit dem Titel «Bidens trotziger Irrglaube». Aufgrund der jüngsten Umfragen werde der Präsident gegen Trump im November vermutlich eine «Erdrutschniederlage» erleiden, mahnte Axelrod. Wenn Biden sich jetzt nicht aus dem Rennen um das Weisse Haus zurückziehe, werde sein Alter und nicht Trumps moralisches Defizit bis im November das grosse Thema bleiben.

Vom bewunderten Kämpfer zum blinden Widerständler

Der ABC-Moderator George Stephanopoulos konfrontierte Biden direkt mit seinen schlechten Umfragewerten: «Ich habe noch nie einen Präsidenten gesehen, der mit einem Zustimmungswert von 36 Prozent wiedergewählt wurde.» Darauf antwortete Biden: «Ich glaube nicht, dass dies mein Zustimmungswert ist. Unsere Umfragen zeigen dies nicht.» Er sei der geeignetste Kandidat, um Trump zu schlagen. Nur «Gott der Allmächtige» könne ihn vom Gegenteil überzeugen.

Ähnlich äusserte sich Biden bei einem Wahlkampfauftritt am Freitag in Wisconsin. «Ich bleibe im Rennen. Ich werde Donald Trump schlagen», erklärte der Präsident vor jubelnden Anhängern. Er habe in seinem langen Leben eines gelernt: «Wenn du hinfällst, stehst du wieder auf.»

Biden musste in seiner erfolgreichen Karriere viele Rückschläge einstecken – beruflich und privat. Kurz vor Weihnachten 1972 verlor er seine erste Frau und seine 13-monatige Tochter bei einem Autounfall. Seine beiden Söhne Beau und Hunter überlebten. Doch Beau starb 2015 an Krebs, und Hunter kämpfte lange mit einer Drogensucht. Bevor Biden 2020 die Wahl gewann, scheiterte er zwei Mal im Rennen um das Weisse Haus. Auch vor vier Jahren stand er in den Vorwahlen kurz vor dem Aus, bevor er in South Carolina das Comeback schaffte.

Eigentlich lieben die Amerikaner solche Geschichten. Wohl nirgends sonst werden Aussenseiter, die gegen alle Widerstände an ihren Zielen und Träumen festhalten, derart bewundert wie in den USA. Nun aber kollidiere Bidens Comeback-Mythos mit einer neuen Realität, schrieb die «New York Times» am Sonntag. Der Präsident werde nicht mehr als Kämpfer gesehen, sondern von seinen Kritikern beschuldigt, sein Ego über das Wohl des Landes zu stellen: «Die Unverwüstlichkeit, die Biden zu seinem Markenzeichen machte, erscheint manchen nun als blinder Widerstand angesichts einer steigenden Flut.»

Entscheidende Woche mit Nato-Gipfel

Stephanopoulos, der ABC-Moderator, wollte von Biden am Freitag auch wissen, wie er sich im nächsten Januar fühlen würde, sollte er im Rennen bleiben und gegen Trump verlieren. Solange er sein Bestes gegeben habe, könne er mit einer Niederlage leben, antwortete der Präsident. Damit verleugnet Biden die zentrale Botschaft seines eigenen Wahlkampfs. Eine zweite Amtszeit für Trump bedeute das Ende der amerikanischen Demokratie und der freien Welt, mahnen Biden und seine Partei seit Monaten. Nur deshalb ist die Panik in den eigenen Reihen auch so gross. Mehr und mehr Demokraten sind davon überzeugt, dass der Präsident die Wahl verliert, weil selbst «sein Bestes» nicht mehr für einen Sieg reicht.

Die Zahl der demokratischen Kongressabgeordneten, die Biden öffentlich zum Rückzug seiner Kandidatur aufgefordert haben, ist mittlerweile auf fünf angestiegen. Aber auch Politiker, die sich öffentlich noch für Biden einsetzten, zeigten sich in vertraulichen Gesprächen pessimistisch, schrieb die «Washington Post». Gemäss Medienberichten will der demokratische Senator Mark Warner am Montag eine Diskussionsrunde mit seinen Fraktionskollegen einberufen, um über Bidens Zukunft zu reden. Bereits am Sonntag organisierte Hakeem Jeffries, der führende Demokrat im Repräsentantenhaus, eine Konferenzschaltung zur Kandidatur des Präsidenten mit einflussreichen Abgeordneten. Eine Handvoll von ihnen soll sich für einen Rückzug des Präsidenten ausgesprochen haben.

Während sich Biden am Wochenende auf Wahlkampftour in Pennsylvania befand, gab es für ihn immerhin eine positive Nachricht. Gemäss einer neuen Umfrage der Nachrichtenagentur Bloomberg konnte der Präsident den Rückstand auf Trump in wichtigen Swing States im Schnitt auf zwei Prozentpunkte verkürzen – trotz der schlechten Debatte. Andere Umfragen zeigten für Biden jedoch einen Abwärtstrend. Selbst in sicher geglaubten Gliedstaaten wie Minnesota, Virginia oder New Hampshire scheint sein Rückhalt nach der Debatte zu bröckeln.

«Ich glaube, die kommende Woche ist wirklich entscheidend», erklärte Senator Murphy in seinem Interview auf CNN. Wichtig wird dabei auch sein, wie sich Biden am Gipfel zum 75-Jahr-Jubiläum der Nato in Washington präsentiert. Ein dichtes Programm mit multilateralen und bilateralen Treffen steht dem Präsidenten bevor. Die Augen dürften aber ganz besonders bei der geplanten Pressekonferenz auf ihn gerichtet sein.

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