Donnerstag, September 19

Nach 64 Jahren wird das Stadtpräsidium am 22. September voraussichtlich erstmals wieder von einer frankofonen Person geführt. Das ist kein Zufall: Die Romandie gewinnt an Kraft in der zweisprachigen Stadt – aus unerwarteten Gründen.

Nach vierzehn Jahren gibt der Bieler Stadtpräsident Erich Fehr (SP) sein Amt ab. Während in Biel vor allem interessiert, ob die Stadt weiterhin links dominiert bleibt oder ob das bürgerliche Lager das Stadtpräsidium erobern kann, wird über einen anderen Punkt erstaunlich wenig diskutiert: die Rolle der Frankofonie. Denn nach 64 Jahren mit deutschsprachigen Stadtpräsidenten wird voraussichtlich zum zweiten Mal eine französischsprachige Person – und erstmals eine Frau – das Zepter der zweitgrössten Stadt des Kantons Bern übernehmen.

Die zwei Anwärterinnen auf das Präsidium sind die bisherigen Regierungsmitglieder Glenda Gonzalez Bassi von der SP und Natasha Pittet vom Parti radical romand (PRR), der französischsprachigen Sektion der Bieler FDP. Speziell in Biel ist, dass es keine offiziellen Kandidaturen für das Stadtpräsidium gibt, die Wahlzettel werden mit einem leeren Feld verschickt. Doch die beiden Frauen sind die Einzigen, die ihre Ambitionen für dieses Amt angekündigt haben und Wahlkampf betreiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine der beiden gewählt wird, ist hoch.

Als Bisherige sind sie in der Stadt bekannt, wenn auch Gonzalez durch ihre längere Amtszeit einen Vorteil hat – und vor allem durch ihre Partei. Seit 1976 ist das Stadtpräsidium in SP-Hand. Doch noch ist nichts entschieden: Um die linke Dominanz zu brechen, haben sich die Bürgerlichen erstmals zu einer Allianz verbündet. Entscheidend bei der Wahl wird also die politische Couleur sein.

Französische Sprache gewinnt an Stärke

Dass ausgerechnet zwei französischsprachige Frauen antreten, steht symbolisch für die Entwicklung, die Biel gerade durchmacht. Ursprünglich war sie eine rein deutschsprachige Stadt. Doch die französische Sprache war aufgrund der umliegenden frankofonen Bevölkerung schon früh präsent. Durch die Industrialisierung warb Biel ab den 1840er Jahren aktiv Uhrenarbeiter aus den Juratälern an, bald darauf wurde die erste französischsprachige Schulklasse gegründet. Die Stadt wuchs und dabei auch der Anteil Frankofoner. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts machte er einen Viertel aus, heute liegt er sogar bei rund 44 Prozent – dies vor allem dank der Einwanderung.

Mit 33,2 Prozent gehört Biel zu den fünf Städten mit dem grössten Ausländeranteil der Schweiz. Fast ein Drittel der ausländischen Bevölkerung stammt aus Afrika, oft aus französischsprachigen Ländern. Hinzu kommen Italiener, Spanier und Portugiesen, die sich ebenfalls mit der französischen Sprache registrieren. Insgesamt zählt die Stadt mit ihren 57 000 Einwohnern 153 Nationalitäten.

Auch die SP-Anwärterin auf das Präsidium, Glenda Gonzalez Bassi, hat einen Migrationshintergrund: Sie ist in Chile geboren und verbrachte dort ihre ersten sechs Lebensjahre. Nach dem Militärputsch 1973 floh die Familie in die Schweiz. Als Jugendliche reiste Gonzalez Bassi oft nach Lateinamerika. Ihr Herz aber blieb stets in Biel: Selbst als Gonzalez Bassi in Neuenburg Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften studierte, kehrte sie an den Wochenenden immer zurück nach Biel. «Das ist meine Stadt», sagt sie.

Den Weg in die Politik fand Gonzalez Bassi durch ihre Kinder: «Ich engagierte mich in der Schulkommission, und irgendwann wurde mir gesagt, ich solle doch für den Stadtrat (das Stadtparlament, Anm. d. Red.) kandidieren.» Das war vor zehn Jahren. 2020 wurde sie von der Legislative in die Exekutive gewählt, wo sie seither der Direktion für Bildung, Kultur und Sport vorsteht.

Das Bieler Modell in den Sprachwissenschaften

In Biel gibt es zwei offizielle Amtssprachen. Die Wohnquartiere sind gemischt, in einem Laden spricht man Deutsch, im Laden nebenan wechselt man auf Französisch. Plakate von Geschäften sind teilweise zweisprachig gehalten. Und dass jene Person die Sprache festlegt, die das Gespräch eröffnet, hat in der Sprachwissenschaft sogar einen Namen: das Bieler Modell.

«Zäme pour demain», so lautet denn auch der Wahlspruch der liberalen Anwärterin auf das Stadtpräsidium, Natasha Pittet. Die 56-Jährige sass zehn Jahre im Stadtparlament, ehe sie 2023 in die Exekutive nachrückte und dort die Direktion Soziales und Sicherheit übernahm. Sie ist unter anderem für die Integrationspolitik zuständig und hat die Herkulesaufgabe, Ruhe und Ordnung in das von Korruptionsvorwürfen geschüttelte Migrationsamt zu bringen.

Dank ihrem Amt kennt sie die Demografie ihrer Stadt gut. Inzwischen trügen nicht nur Ausländer dazu bei, dass der Anteil Frankofoner steige. Jüngst seien vor allem auch Personen aus den Kantonen Waadt, Neuenburg und Genf nach Biel gezogen, sagt Pittet: «Biel ist attraktiv, weil andere Westschweizer Städte teurer und die Mieten teilweise fast schon unbezahlbar geworden sind.» Es gebe viele, die hier wohnten, aber in Lausanne oder Genf arbeiteten. Sie selber stammt aus dem Kanton Waadt. Mit ihrem damaligen Ehemann lebte sie eineinhalb Jahre lang in Basel, bis er eine Stelle in Biel erhielt – beim Dachverband der Uhrenindustrie.

Seit rund dreissig Jahren lebt Pittet, promovierte Juristin, nun in Biel. Hier hat sie ihre Übersetzungsagentur aufgebaut und ihre vier Kinder aufgezogen. «Als wir noch in Basel lebten und am Wochenende via Biel ins Waadtland fuhren, um Freunde und Familie zu besuchen, haben wir immer gesagt, wir möchten niemals in Biel leben. Lange hatte Biel keine gute Reputation. Aber jetzt könnte ich mir keine andere Stadt vorstellen, sie ist mir wirklich ans Herz gewachsen», sagt Pittet.

Tatsächlich hatte Biel lange mit dem Image zu kämpfen. Es war die Stadt der Aussteiger, der Randständigen. Mehrere unschöne Rekorde haben dazu beigetragen: Im Kanton Bern weist Biel seit Jahren die höchste Kriminalitätsrate auf. Auch ist es als Stadt mit der höchsten Sozialhilfequote der Schweiz bekannt. Grund sind vor allem die vielen Flüchtlinge, aber auch die hohe Zahl von Alleinerziehenden und Personen mit tiefer Bildung. Mit knapp 4 Prozent ist zudem die Arbeitslosenquote mehr als doppelt so hoch wie im gesamten Kanton Bern.

Die Stadt hat in den letzten Jahren viel darangesetzt, ihr Image aufzupolieren. Mit zaghaftem Erfolg: Die Sozialhilfequote sinkt, eine neue Finanzstrategie soll die Schulden endlich senken, langsam ziehen auch Familien nach Biel. Das ist auch das Ziel von Pittet. Es ist ein strategischer Schachzug: Um die Schulden zu mildern, braucht es mehr Einnahmen – zum Beispiel durch steuerkräftige Personen. Doch um diese anzulocken, muss die Stadt attraktiv sein.

Industrie, Infrastruktur, Immobilien

2018 haben die städtischen Behörden die Kampagne «Willkommen in Biel» gestartet, um den Zuzug neuer Einwohner aus der Mittelklasse zu fördern. Die Stadt hat in den letzten Jahren aber nicht nur in den Bau von Wohnungen, sondern auch in Infrastruktur und Industrie investiert. 2015 wurde mit der Tissot-Arena ein grosser Sport- und Veranstaltungskomplex eröffnet. 2021 wurde der Switzerland Innovation Park eröffnet, welcher Unternehmen, Forschung und Spezialisten über den Röstigraben hinweg vernetzen soll.

2019 weihten die Swatch-Gruppe und die dazugehörende Uhrenmarke Omega den neuen Hauptsitz in Biel ein, dieses Jahr hat das Unternehmen ein Baugesuch eingereicht, um seinen Campus zu vergrössern. Und auch Rolex hat seine Fabriken und Unternehmensgebäude in Biel ausgebaut – auch wenn der richtig grosse Komplex derzeit im freiburgischen Bulle gebaut wird. Weiter wird in Biel in einen Campus für die Berner Fachhochschule investiert sowie in ein neues Spitalprojekt. Die Stadt ist auch ein Sammelbecken für Hightech-Betriebe. Gemäss offiziellen Zahlen entstehen ein Viertel der Arbeitsstellen in der Präzisionsindustrie zwischen Neuenburg und Solothurn.

Mit seiner zentralen Lage sei Biel nicht nur für diejenigen interessant, die in der Uhren- und der Maschinenbauindustrie tätig seien, sondern auch für jene, die im Jurabogen oder in Bern arbeiteten. «Gerade für Romands ist das Umfeld attraktiv, weil sie ihre Kinder zweisprachig aufziehen wollen», sagt Gonzalez Bassi. Alle 22 Ortsschulen haben zwei Klassen, in der einen erfolgt der Unterricht auf Deutsch, in der anderen auf Französisch, spätestens beim Schuleintritt kommen die Kinder mit der anderen Sprache in Kontakt.

Die öffentliche Filière-Bilingue-Primarschule (FiBi) führt gar gemischte Klassen – bereits ab dem Kindergarten. Die eine Hälfte der Fächer wird auf Deutsch, die andere auf Französisch unterrichtet. Das 2010 lancierte Pilotprojekt ist schweizweit einzigartig und verzeichnete einen so grossen Erfolg, dass es mehrfach verlängert und auf die Sekundarstufe ausgedehnt wurde. Eine zweisprachige Maturität ist ebenfalls möglich.

«Auch haben wir keine Wartelisten für Kitas. Und ein anderer Vorteil ist die durchgehende Kinderbetreuung in unseren Tagesschulen», sagt Gonzalez Bassi. Gerade für Eltern, die pendelten, sei dies eine grosse Entlastung. «Man kann Karriere machen und sich darauf verlassen, dass das Kind den ganzen Tag betreut ist.»

Noch sind die Romands unterrepräsentiert

Doch so harmonisch es auch scheinen mag: Auch in Biel ist die Zweisprachigkeit nicht perfekt. Gemäss einigen Studien lebten die Deutsch- und Französischsprachigen eher ein Nebeneinander als ein Miteinander, unterstreicht Rainer Schneuwly in seinem Buch «Bilingue» von 2019. Eine grosse Mehrheit von Welschbielern (87 Prozent) findet, sie würden nicht gleich behandelt wie die Deutschsprachigen. Und Initiativen zur Förderung der Zweisprachigkeit sind umstritten – so wurde letztes Jahr eine Gesetzesänderung, wonach Werbetreiber ihre Plakate in beiden Sprachen aufhängen müssen, mit 52,9 Prozent nur knapp angenommen.

Das Ziel, die breite Öffentlichkeit für die Zweisprachigkeit und die sprachliche Verständigung zu sensibilisieren, verfolgt das 1996 gegründete Forum für Zweisprachigkeit. Die Geschäftsführerin Virginie Borel sagt, es habe sich viel getan, doch noch sehe sie Baustellen; etwa gebe es im Raum Biel viel zu wenige Lehrstellen für Jugendliche mit französischer Muttersprache.

Und in der Politik und in der Verwaltung besteht immer noch eine markante Deutschschweizer Vormachtstellung. Das Forum für Zweisprachigkeit wies etwa auf den Mangel an französischsprachigen Führungskräften hin. In der Verwaltung wurde 2016 eine Rekrutierungskampagne lanciert, seit 2019 wird bei zwei gleichwertigen Kandidaturen für eine Kaderstelle die französischsprachige Person bevorzugt. Dies trug Früchte: Zwischen 2013 und 2023 konnte der frankofone Anteil von 35 auf 40 Prozent gesteigert werden, doch das Ziel, Ende 2024 bei 45 Prozent zu sein, wird nicht erreicht.

In der Politik ist man von einem sprachlichen Ausgleich sogar meilenweit entfernt: Von den fünfzehn Kandidaten für den Gemeinderat sind gerade einmal drei französischsprachig. Von den 336 Kandidaten für das Stadtparlament sind es weniger als ein Drittel. Virginie Borel sieht die Gründe darin, dass viele Ausländer oder Eingebürgerte Französisch als Hauptsprache angeben, aber das Schweizer Politsystem weniger gut kennen und keine Erfahrung mit dem Milizsystem haben. Oder aber sie seien des Deutschen nicht mächtig: Zwar kann sich im Bieler Stadtparlament jede Person auf Französisch oder Deutsch ausdrücken – doch es gibt keine Dolmetscher. «Meistens wird auf Dialekt gesprochen – für Welschbieler ist dies oft kein Problem, für Zugezogene aber schon», sagt Borel. «Es ist Zeit, eine Simultanübersetzung in Betracht zu ziehen.»

Muss sie sich entscheiden?

Auch wenn der Anteil Frankofoner steigt; noch ist Biel nicht ganz so «romande» wie andere Städte. Natasha Pittet möchte die Stadt gegenüber der Westschweiz öffnen. «Biel hat mit Lausanne mehr gemeinsam als mit Thun. Wir sind viel multikultureller.» Interessant sei vor allem der Jurasüdfuss: «Sie stehen vor denselben Herausforderungen wie wir: eine Wirtschaft im Wandel, eine teilweise bildungsferne Bevölkerung, aber auch viel Innovation und Offenheit.»

Glenda Gonzalez Bassi hingegen sieht keinen Bedarf einer stärkeren Ausrichtung zur Romandie: «Die Schweiz ist zu klein dafür.» Biel solle weiterhin davon profitieren, wie Bern in jeweils beiden städtischen Konferenzen vertreten zu sein, derjenigen der Deutschschweiz und derjenigen der Westschweiz.

Vielleicht musst sich Biel ja auch gar nicht entscheiden zwischen der Romandie und der Deutschschweiz. Es kann auch einfach weiterhin beides sein.

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