Sonntag, September 29

«Kaulitz & Kaulitz» ist eine so schlaue wie heitere Homestory. Heidi Klum, die begriffen hat, dass sie einen Zwilling heiratet, ist richtigerweise nur Beigemüse.

Die schönste Lovestory dieses Sommers. Die schönste Brudergeschichte, Emanzipationsgeschichte und Ich-hab-den-Irrsinn-des-Boyband-Starruhms-überlebt-Geschichte auch. «Kaulitz & Kaulitz», eine Netflix-Doku-Soap über Deutschlands berühmteste Zwillinge, hätte ein Aufguss popkultureller Nichtigkeiten im Kardashian-Stil werden können, ist aber die schlauste Inspektion einer Karriere im Zeichen des Boulevards, die man zurzeit sehen kann.

Raffinierter lässt sich das Leben als Spiegelgefecht mit dem eigenen Image, den Ansprüchen von Publikum und Schlüssellochblick-Presse nicht erzählen. Ob das alles so richtig und authentisch ist, was in den acht Folgen von den Kaulitz-Brüdern berichtet wird, spielt keine wesentliche Rolle.

Authentizität ist nicht der Mehrwert, den es filmisch einzulösen gilt. Authentizität ist die fixe Idee, die solche Doku-Formate bewirtschaften, und wenn es gut läuft, wird daraus kein Illusionstheater aus dem Geist des Marketings, sondern eine Show der Selbstironie.

Struwwelpeter und Sonnyboy

Bill und Tom Kaulitz, 34, sind heitere Ironiker. Sie wissen, dass es ein Leben ausserhalb der medialen Repräsentation für sie nicht geben kann. Seit rund 20 Jahren ist das so. Als Teenager kamen sie mit ihrer Band Tokio Hotel zu Weltruhm. Zwei Jungs aus Magdeburg, der eine ein exzentrischer Struwwelpeter und Dandy, der andere ein Sonnyboy mit Hip-Hop-Skater-Appeal.

Das war die Konstellation, ideal für die Verwertung auf den Märkten der Aufmerksamkeit. Das doppelte Lottchen des Deutsch-Pop garantierte doppelte Erregungswerte in den konsumfähigen Zielgruppen – die vertrackten Gefühlslagen des Teenagers und Twens hatten im Kaulitz-Gespann ihre perfekte Projektionsfläche. Irgendwie rebellisch und patzig, zugleich aber so höflich und gesittet, dass Kulturbürgereltern Tränen der Rührung in die Augen stiegen, wenn die beiden Preis um Preis entgegennahmen.

Und Magdeburg, das war als Herkunftsort eines modernen Mythos nicht entrückt wie London, New York oder L. A., sondern so greifbar nah wie eben, tja, Magdeburg. Deutschland ist, was popmusikalische Innovationen angeht, Entwicklungsland geblieben. Kraftwerk, klar, der eine oder andere Rapper, das war es schon.

Auch Tokio Hotel machte klangästhetisch keine grossen Sprünge. Es schrammelte und schmachtete in ihren Songs, wie es sich für Teen-Pop-Operetten gehört. Die Innovation lag im Effekt einer paradoxen Einheit. Die Zwillingsbrüder, unzertrennlich und dabei, was Habitus und Stilgesten anging, klar voneinander geschieden, erschienen als Doppelgänger ihrer selbst, einer die Kopie des anderen und doch ein Unikat.

Zartheit und Zorn

Tom und Bill zu lieben, hiess, ein Mischwesen anzuhimmeln, das die Konflikte des Jung- und Auf-dem-Weg-Seins in sich selbst zum Ausdruck brachte. Revolte und Anpassung, Zartheit und Zorn, Autonomie und Hilflosigkeit: In ihrer Zwiegestalt besichtigte eine Generation das Verwirrspiel der eigenen Affekte. Und weil Bill Kaulitz ein Schwuler war, dessen Comingout erst einmal verhindert wurde, lud sich die Kaulitz-Show mit einer gesellschaftspolitischen Frage auf.

Das ist der frappierend kritische Moment in der sonst quietschbunt-heiteren Homestory mit ihren diversen Stationen (Geburtstagsparty, Apartmentkauf in New York, Besuch der Mutter in Hamburg): Wenn der 34-jährige Bill sich selber auf einer Leinwand zusieht, wie er als Teeniestar beteuert, nicht schwul zu sein. Wie George Michael 20 Jahre zuvor hatten ihm Marketing und Management die Verfügbarkeit als romantischer Fetisch für Girls verordnet – eine schreckliche Zurichtung aus dem Geist kapitalistischen Kalküls.

Vor dem Hintergrund dieser Stigmatisierung wird «Kaulitz & Kaulitz» zum Ermächtigungsdrama. Zwei Brüder, die zusammenhalten, auch wenn der Ruhm noch die intimsten Regungen zur Ressource werden lässt.

Die Serie spielt bis auf Szenen in Berlin und Hamburg ausschliesslich in Amerika, dem Exil der beiden. Dorthin flohen sie 2010 vor ihrem eigenen Nimbus, um, wie es im Jargon heisst, bei sich selber anzukommen. Und dieses Selbst hat immer zweifache Gestalt: kein Kaulitz ohne Kaulitz.

Warhol, der das Image des Stars durch Vervielfältigung überhöhte und gleichzeitig demontierte, hätte seine Freude an den beiden gehabt. Sie personifizieren seine Idee, dass moderner Ruhm auf Reproduktion beruht und Originalität nur ein Label ist, kein Wert an sich.

So gesehen ist das Finale dieser ersten Staffel eine Lektion in Medienkunde: Bill und Tom schauen sich in einem Privatkino die wichtigsten Szenen der eigenen Serie «Kaulitz & Kaulitz» an. Zwei Voyeure ihres eigenen Lebens, denen man beim Zuschauen zusieht – prägnanter kann man die grenzabsurde Konstellation des Starlebens nicht darstellen.

Dem Prominenten erschliesst sich das Eigene nur in der medialen Wiedergabe, die wiederum das Eigene durchkreuzt mit ästhetischen und wirtschaftlichen Interessen. Auch diesen Moment meistern die beiden mit Bravour: Zwischen Amüsement und Reflexion erklären sie ihr Leben als Vorstellung für gelungen.

Homosexuelle Jugendliche wünschen sich das

Was diese Serie für Heranwachsende, die sich vor ihrem Comingout fürchten, bedeuten kann, ist noch gar nicht zu ermessen. Wahrscheinlich wünscht sich jeder und jede homosexuelle Jugendliche so einen Geschwisterpart. Loyal und fürsorglich, ab und zu streng wie eine Gouvernante, dann wieder heiter unbeschwert wie der Best Buddy auf dem Pausenhof.

Dieser Effekt der Unverbrüchlichkeit, wenn man will: eines gelungenen Konservatismus, stellt sich auf allen Ebenen ein. Zwischen die Kaulitz-Brüder, so scheint es, passt kein Blatt, auch nicht, wenn Platten- oder Ehevertrag draufsteht.

Tom Kaulitz ist zwar mit Heidi Klum verheiratet – sie kommt in den acht Folgen nur drei Mal zu Wort, als amüsierter Zaungast mit Hunde- und Garderobeproblemen –, aber der Ehepartner auf biografisch höherer Ebene ist Bill. Deshalb ist «Kaulitz & Kaulitz» auch eine Liebesgeschichte für postmodern Gestresste.

Digitales Dating ist Optimierungszwang, sexpositives «anything goes» führt in die Isolation, die meisten Ehen werden früher oder später geschieden. Die Liebesallianz der Brüder aber scheint unzerstörbar, und wenn Heidi Klum sagt, sie habe schnell begriffen, dass sie einen Zwilling heirate, fasst sie die dramaturgische Idee der Kaulitz-Bruderschaft zusammen.

Die Vorstellung ist entlastend: dass der eine immer den andern hat, dass man zusammen alt wird und sich selbst als kritisch-besorgtes Double erscheint. «Kaulitz & Kaulitz» hat so gesehen therapeutische Aspekte. Die Rückerstattung von Solidarität in einer sich vereinzelnden Gesellschaft: Wer wünschte sich das nicht? Dass ausgerechnet zwei Veteranen des Pop-Geschäfts diese Utopie verkörpern, ist mindestens so amüsant und ironisch wie das Lachen von Bill Kaulitz. Ein ansteckendes Lachen, das Hoffnung, Mut und Freude überträgt.

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