Was zu Beginn des Ukraine-Krieges erst Science-Fiction war, ist heute Realität: der massenhafte Einsatz von Minidrohnen, die Jagd auf gegnerische Truppen machen. Besonders die Ukrainer sind auf diese Neuerung angewiesen. Sie verändert die Kriegsführung grundlegend.
Seit zwei Wochen spielen sich auf den Feldern westlich des ostukrainischen Dorfes Tonenke furchtbare Szenen ab. Russland schickt immer neue Wellen von Panzerfahrzeugen an die Front, doch viele fallen den ukrainischen Verteidigern zum Opfer. Drohnenaufnahmen lassen die Heftigkeit der Kämpfe erahnen: Entlang eines kurzen Waldstreifens, von dem nur noch verkohlte Stummel übrig sind, sind ein Dutzend zerstörte oder beschädigte Militärfahrzeuge zu erkennen.
Besonders die ukrainischen Kamikaze-Drohnen beweisen in dieser Schlacht ihre tödliche Präzision. Allein seit Anfang April sind mehrere Videos in Umlauf gekommen, welche die ukrainische Taktik bei Tonenke illustrieren. Eines zeigt, wie ein russischer T-72-Panzer von einer explodierenden Drohne lahmgelegt wird. Darauf wirft eine weitere eine Granate auf das Gefährt ab und setzt es in Brand.
In einem anderen Video rast eine Kamikaze-Drohne hinter einem Schützenpanzer her und trifft ihn an einer besonders verwundbaren Stelle – unterhalb des Schutzgitters, das nun die meisten Panzer zur Abwehr von Drohnen tragen. Das Fahrzeug gerät sofort in Brand, ein Russe rettet sich mit einem Sprung aus der Luke. Ganz in der Nähe geht ein Soldat hinter umgestürzten Baumstämmen in Deckung, doch eine Drohne detoniert direkt neben ihm. Regungslos bleibt der Mann liegen.
Bei all diesen Kriegshandlungen kamen sogenannte FPV-Drohnen zum Einsatz – ein Drohnentyp, der zu Beginn des Krieges noch fast unbekannt war. Seit dem vergangenen Sommer hat er sich rasant verbreitet und den Krieg noch heimtückischer als zuvor gemacht. Die Abkürzung steht für «First Person View» und bezieht sich auf das wichtigste Charakteristikum dieser Drohnenart: Der Pilot des unbemannten Fluggeräts verfolgt das Geschehen mit einer Videobrille, an die in Echtzeit Aufnahmen der Drohnenkamera übermittelt werden. Er hat also eine Perspektive, wie wenn er selber mitfliegen würde.
FPV-Drohnen wurden ursprünglich zu Vergnügungszwecken entwickelt, aber die Kriegsparteien erkannten bald ihren Nutzen. Sie zeichnen sich gegenüber anderen Drohnen durch eine höhere Geschwindigkeit, extreme Wendigkeit und ihren unschlagbar niedrigen Preis aus. Die in der Ukraine eingesetzten, tellergrossen Quadrokopter (Drohnen mit vier Rotoren) kosten nur 300 bis 400 Franken. Trotz ihrer Kleinheit sind sie genügend leistungsfähig, um einen mehrere Kilogramm schweren Sprengsatz einige Kilometer weit zu transportieren und damit ein feindliches Ziel zu bekämpfen.
Nicht nur jagen die Drohneneinheiten damit feindliche Soldaten oder suchen sich ihre Opfer in gegnerischen Schützengräben. Manchmal gelingt es sogar, gepanzerte Fahrzeuge auf einen Schlag zu zerstören. Das untenstehende Video zeigt, wie eine ukrainische FPV-Drohne einen russischen Schützenpanzer in voller Fahrt von hinten trifft und eine gewaltige Detonation auslöst.
Dokumentiert sind mehrere Fälle, in denen FPV-Drohnen den modernsten und schwersten Panzer zerstörten, den Moskau im Ukraine-Krieg einsetzt: den T-90M «Durchbruch». Von diesem 48 Tonnen schweren Ungetüm hat Russland bisher nur etwa 200 Stück hergestellt. 60 davon wurden bereits zerstört, in mindestens einem Drittel der Fälle durch Kamikaze-Drohnen, wie die Analyse-Plattform Warspotting aufgrund von Bildmaterial nachgewiesen hat.
Meist sind jedoch mehrere Anläufe nötig, um einen Kampfpanzer ausser Gefecht zu setzen. Weil die verwendeten Drohnen so billig sind, lohnt sich die Taktik dennoch. Erleidet ein Panzer durch einen ersten Angriff eine Panne und kommt zum Stehen, ist es oft um ihn geschehen: Weitere Drohnen oder Artillerieangriffe können dann das Zerstörungswerk vollenden. Das untenstehende Video aus dem vergangenen Winter illustriert dies:
Es zeigt, wie ein russischer Kampfpanzer T-90M von vorne getroffen wird. Das Fahrzeug kommt darauf vom Weg ab, durchbricht ein Wäldchen, während sich der Geschützturm unkontrollierbar dreht. Der Besatzung bleibt nur noch die Flucht. Sie weiss, dass jederzeit eine weitere Killerdrohne zuschlagen kann, was später auch geschieht.
FPV-Drohnen können dank ihrer Wendigkeit die Schwachstellen des gegnerischen Kriegsgeräts genau treffen oder – wie im untenstehenden Beispiel – sogar durch Öffnungen ins Innere eines Kampfpanzers fliegen. Das Video zeigt, wie eine bläuliche Drohne von links anfliegt, durch die Luke des Panzerkommandanten eindringt und einen Brand auslöst. Die anschliessende Explosion vernichtet das teure Gefährt.
FPV-Drohnen haben inzwischen eine enorme militärische Bedeutung. Mehr als zwei Drittel der russischen Panzer, die das ukrainische Militär in den letzten Monaten zerstörte, wurden mithilfe solcher Drohnen ausgeschaltet. Dies schreibt das Fachmagazin «Foreign Policy» unter Berufung auf eine Nato-Quelle.
Der hohe Anteil spiegelt allerdings eine düstere Realität: Den Ukrainern bleibt gar nichts anderes übrig, als auf Kampfdrohnen zu setzen, weil sie unter einem dramatischen Mangel an Artilleriemunition leiden. Sie können nur ein Fünftel so viele Granaten abfeuern wie die Russen, und wegen der ungelösten Nachschubprobleme wird dieses Ungleichgewicht laut dem Pentagon bald auf 1:10 ansteigen. So erstaunt es nicht, dass im Kampf gegen russische Panzer immer weniger Treffer auf das Konto von Artillerie und Panzerabwehrlenkwaffen gehen.
FPV-Drohnen sind jedoch kein Ersatz für Artillerie, wie Militärexperten betonen. Im Unterschied zu Artilleriegranaten können sie keine Wände durchschlagen, und ihre Reichweite ist viel geringer. Die empfindlichen Fluggeräte können zudem durch Störsender zum Absturz gebracht werden, und bei stürmischem Wetter taugen sie nichts. Dass Drohnen kein Allheilmittel sind, lässt sich schon daran erkennen, dass die Russen im Donbass in den letzten Wochen trotz hohen Verlusten weiter vorgerückt sind.
Der grosse Vorteil dieser Waffe liegt in der jetzigen Situation vor allem darin, dass sie sich massenhaft im eigenen Land herstellen lässt. Fast alle FPV-Drohnen enthalten laut dem amerikanischen Militärtechnologie-Experten Sam Bendett Teile aus China, aber diese werden in der Ukraine von Freiwilligen sowie Dutzenden neugegründeter Firmen zusammengesetzt und an die Truppen geliefert. Der Produktionsboom ist atemberaubend: Noch Anfang letzten Jahres verkündete das Militär stolz, es wolle 1000 Stück dieser revolutionären Technologie anschaffen. Ende 2023 erreichte die monatliche Produktion laut offiziellen Angaben bereits 50 000 Stück. Inzwischen sieht sich Kiew auf Kurs, im Laufe von 2024 zwei Millionen FPV-Drohnen herzustellen.
Rasant ist auch die Zahl der Einsätze gestiegen. Der erste belegte Kriegseinsatz einer FPV-Drohne erfolgte im Juni 2022 durch Russland. Aber bis weit ins Jahr 2023 fristete die neue Technologie ein Randdasein. Dies änderte sich im vergangenen Sommer, als immer mehr Videos von FPV-Angriffen auftauchten. Beide Kriegsparteien haben ein Interesse daran, für Propagandazwecke alle ihre Treffer zu zeigen. Unabhängige Rechercheure wie das Analyse-Kollektiv Tochnyj sammeln diese Belege, so dass sie sich statistisch auswerten lassen. Angriffe auf einzelne Soldaten haben sich laut diesen Angaben in den letzten Monaten vervielfacht, von 14 Vorfällen im August 2023 auf über 2000 im März.
Die Grafik zeigt, dass Russen und Ukrainer lange Zeit gleich häufig mit FPV-Drohnen angriffen, aber seit Beginn dieses Jahres eine wachsende Kluft besteht. Russland ist wegen seiner Munitionsvorräte weniger auf Kampfdrohnen angewiesen und setzt diese auf andere Weise ein. Eine ukrainische Offizierin beschrieb die gegnerische Taktik kürzlich so: Russland beschiesse die ukrainischen Frontstellungen mit Gleitbomben und Artillerie, danach erfolgten Sturmangriffe. Nach der Dämmerung beginne der Einsatz von FPV-Drohnen mit Wärmebildkameras.
Auch die Ukrainer wollen zunehmend auf Drohnen mit Nachtsichtkameras setzen. Der Krieg wird sich dadurch nochmals verändern. Die neue Technologie bedeutet, dass nicht einmal mehr die Dunkelheit Schutz bietet vor einem plötzlichen, tödlichen Schlag aus der Luft.