Samstag, Oktober 5

Um Tiere wie den Steinadler oder den Uhu zu schützen, müsse unter Umständen auf den Bau gewisser Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energie verzichtet werden, fordert der Biologe Raphaël Arlettaz. Es sei Zeit, den Umweltschutz umfassender zu denken.

Herr Arlettaz, wir werden im September über die Biodiversitätsinitiative abstimmen. Sie forschen seit mehr als 20 Jahren zum Thema. Wie ist der Zustand der Artenvielfalt in der Schweiz?

Der Zustand ist nicht gut, auch wenn es gewisse Stimmen gibt, die etwas anderes behaupten. Die Frage ist immer: Womit vergleichen wir den heutigen Zustand? Wenn wir die 1970er bis 1990er Jahre als Referenz nehmen, kann der Eindruck entstehen, die Situation habe sich punktuell verbessert. Damals war die Situation dramatisch, viele Monitoringprojekte wurden ins Leben gerufen, und Massnahmen wie Biodiversitätsförderflächen in der Landwirtschaft und gezielte Schutzprojekte hatten eine gewisse Wirkung. Aber zu behaupten, die Situation heute sei gut, ist schlichtweg falsch. Die Fachleute des Bundes schätzen, dass in der Schweiz ein Drittel der derzeit bekannten 56 000 Arten und die Hälfte der 230 unterschiedlichen Lebensräume gefährdet sind. Und es ist wichtig, zu verstehen, dass Biodiversität viel mehr ist als die Anzahl der Arten, die hier leben.

Können Sie das erklären?

Die Biodiversität umfasst nicht nur die Anzahl der Arten, sondern auch die genetische Vielfalt innerhalb der Arten, die komplexen Wechselwirkungen zwischen den Arten und die Vielfalt der Lebensräume. Vielleicht haben wir im Vergleich zu 1970 ein paar Arten gewonnen – oftmals wenig anspruchsvolle Arten und solche, die vom wärmeren Klima profitieren. Aber seit 1970 gingen gleichzeitig grosse Flächen verloren, die vielen Arten als Lebensraum dienten: Sie wurden asphaltiert und zugebaut mit Strassen, Parkplätzen, Häusern, Industrieanlagen. Auch die Populationsgrösse vieler Arten ist massiv zurückgegangen, vor allem bei den Spezialisten. Und wenn wir zum Vergleich 150 bis 200 Jahre zurückgehen, als die Flüsse noch nicht kanalisiert waren und frei flossen, als es noch grossflächige Feuchtgebiete und Auen gab, als die Landwirtschaft noch nicht derart intensiv war, mit schweren Maschinen, Dünger und einer Vielzahl von Pestiziden – ja, wenn wir das als Vergleich nehmen, kann ein massiver Rückgang der Biodiversität nicht wegdiskutiert werden. Es gibt eine einzige Ausnahme, wo die Situation heute tatsächlich besser ist als damals.

Und die wäre?

Gewisse Arten waren ausgestorben, weil der Mensch sie gezielt verfolgt und gejagt hatte: die grossen Huftiere wie Hirsch, Reh und Steinbock sowie Bär, Wolf, Luchs und Bartgeier. Seit sie geschützt sind und teilweise auch aktiv wieder eingeführt wurden, hat sich ihre Situation stark verbessert.

Zur Person

Botschafter für Bartgeier, Fledermäuse und Wölfe

Der Walliser Raphaël Arlettaz ist 1961 in Fully geboren und aufgewachsen. Seit 2001 ist er Professor für Naturschutzbiologie an der Universität Bern. Er untersucht gefährdete Arten und erforscht, wie wichtige Lebensräume erhalten und wiederhergestellt werden können.

Bleiben wir beim Wolf. Welche Rolle spielt er für die Biodiversität?

Er ist extrem wichtig für die Biodiversität! Die Jäger hören das natürlich nicht gern, da sie eine Konkurrenz sind. Aber es ist erwiesen, dass der Wolf und andere Grossraubtiere Druck auf grosse Pflanzenfresser wie Hirsch und Reh ausüben und dadurch die Waldverjüngung verbessern. Auch der Bartgeier profitiert stark vom Wolf, denn er ist Aasfresser und hat sich auf die Knochen toter Tiere spezialisiert. Während Jäger abgesehen von den Innereien ihre ganze Beute mitnehmen, lassen Wölfe die Kadaver gejagter Tiere zurück. Diese wichtige Rolle der Grossraubtiere für die Koevolution der Arten wird in den Medien fast nie thematisiert. Aber wenn der Wolf in der Schweiz ungefähr 1000 Schafe pro Jahr tötet, wird das als riesiges Problem dargestellt. Gleichzeitig spricht niemand darüber, dass wir in der Schweiz jedes Jahr an die 250 000 Schafe töten, um sie zu essen. Das ist doch absurd!

Sie gehören zu den Forschenden, die die Wiederansiedlung des Bartgeiers in der Schweiz begleitet haben. Sie war erfolgreich. Könnte der geplante Ausbau der Windenergie in der Schweiz den grossen Vogel wieder gefährden?

Im Moment geht es dem Bartgeier im ganzen Alpenbogen sehr gut. Aber Bartgeier haben eine geringe Populationsdichte und vermehren sich mit maximal einem Jungtier pro Jahr nur sehr langsam. Schon ein geringer Anstieg der Sterblichkeit könnte die gesamte Alpenpopulation gefährden. Es gibt zwei Hauptgefahren: Einerseits können Bartgeier, Steinadler und weitere Aasfresser vergiftet werden, wenn sie Überreste von Wildtieren fressen, die mit bleihaltiger Munition geschossen wurden, oder wenn sie Giftköder fressen, die eigentlich für den Wolf gedacht sind. So starb 2019 im Oberwallis ein Steinadler an einer Vergiftung. Die zweite Hauptgefahr geht tatsächlich von Windkraftanlagen aus. Im Berner Jura wurde 2022 ein Steinadler von einer Windturbine geköpft. Um einen Anstieg der Sterblichkeit durch solche Anlagen zu verhindern, hat mein Team kartografische Modelle erstellt, die voraussagen, wo im Alpenraum Bartgeier und Steinadler regelmässig fliegen und somit ein hohes Kollisionsrisiko besteht.

Das heisst, in diesen kritischen Gebieten sollte auf Windkraftanlagen verzichtet werden?

Ja. Die Karten sind seit 2023 verfügbar. Ich hoffe, dass sie genutzt werden, aber es kommt leider oft vor, dass die Politik Ergebnisse aus der Forschung nicht berücksichtigt. So erteilten die Walliser Behörden letzten Herbst eine Fluggenehmigung genau für eines dieser Gebiete. Und tatsächlich kollidierte das Bartgeierweibchen Elena, das seit Jahren am Grand Chavalard bei Fully genistet hatte, mit einem Helikopter und starb.

Ist der geplante starke Ausbau erneuerbarer Energien aus Ihrer Sicht möglich, ohne die Biodiversität stark zu beeinträchtigen?

Das ist schon möglich, aber es wird eine politische Entscheidung sein, wo genau wir diese Anlagen errichten. Es ist ein Dilemma: Wenn Naturschützer gegen ein Projekt mit erneuerbaren Energien Einspruch erheben – etwa gegen die Erhöhung eines Staudamms oder den Bau eines Solarparks in den Alpen –, heisst es oft: Ihr müsst euch entscheiden, was ihr wollt. Um das Klima zu schützen, müssten wir also die Biodiversität opfern? Das ist völlig verrückt, denn Artenschutz ist oft auch Klimaschutz. Warum sollten wir Fotovoltaikanlagen auf artenreichen Alpweiden installieren, die CO2 speichern, wenn wir sie auch auf bereits existierende, menschliche Infrastrukturen setzen können, entlang von Strassen, auf Hausdächern und so weiter? Und bevor wir nun neue Anlagen in wertvollen Lebensräumen planen, sollte einmal ganz klar gesagt sein: Die Stromkonzerne, die jetzt neue Anlagen in den Alpen planen, verursachen oft schon heute enorme Probleme für die Biodiversität.

Welche Probleme?

Wir haben schon vor Jahren aufgezeigt, dass gewisse Masten von Stromleitungen in der Schweiz die Todesursache Nummer eins bei Uhus sind. Auch Störche, Eulen, Milane und andere Greifvögel sterben jedes Jahr an Stromschlag – und dies, obschon es möglich wäre, diese Leitungen vogelsicher zu machen, indem sie in den Boden verlegt oder isoliert werden. Ein entsprechendes Projekt mit dem Bundesamt für Umwelt und den Elektrizitätsunternehmen war aufgegleist und auf gutem Weg, aber dann kamen der Ukraine-Konflikt und die Energiekrise, und Ende 2022 wurde es auf Eis gelegt und nicht mehr weiterverfolgt. Eigentlich müssten die Elektrizitätsunternehmen doch sagen: Okay, jetzt sanieren wir in der ganzen Schweiz erst einmal alle gefährlichen Masten, die seit Jahrzehnten schleichend und systematisch Vögel töten. Stattdessen wollen sie Solarparks und Windräder in die Berge stellen, die neue Probleme schaffen werden.

Auch Landwirtschaft und Biodiversität werden oft als Gegensätze dargestellt. Kennen Sie Artenschutzprojekte, bei denen beide profitiert haben?

Ein Beispiel ist der Wiedehopf, den ich seit nunmehr 45 Jahren studiere. Ich bin in Fully aufgewachsen und begann mit 17 Jahren, Wiedehopfe zu zählen. Die Population des Vogels war in der ganzen Schweiz zusammengebrochen, hier im Wallis zählten wir Ende der 1970er Jahre noch ungefähr 20 Brutpaare. In Studien haben wir gesehen, dass er sich vor allem von Maulwurfsgrillen ernährt, die er im Flachland findet, dass er aber zum Nisten bis in weit entfernte Hänge flog. Um ihm in der Nähe der Nahrungsquelle Nistplätze zu bieten, brachten wir zwischen 1999 und 2003 in der Rhoneebene zwischen Martigny und Siders etwa 700 Nistkästen an landwirtschaftlichen Gebäuden an. Zu unserer grossen Überraschung wurden viele davon sofort bezogen, und innert weniger Jahre hat sich die Population fast verfünffacht.

War es schwierig, die Landwirte für das Projekt zu gewinnen?

Überhaupt nicht. Nachdem wir die ersten Nisthilfen aufgehängt hatten, haben uns sogar Landwirte angerufen und gesagt: «Ich möchte auch Wiedehopfe haben. Ich sah sie noch fliegen, wenn ich meinen Grossvater in die Felder begleitete, und später nicht mehr. Wenn ich sie nun wieder sehe, wenn ich draussen arbeite, ist das grossartig!» Es ist mir schleierhaft, warum der Bauernverband gegen die Biodiversitätsinitiative kämpft, denn die Landwirtschaft profitiert stark von den Leistungen einer vielfältigen Landschaft – etwa von der Bestäubung, der biologischen Schädlingskontrolle oder der Fruchtbarkeit der Böden.

In den letzten 200 Jahren wurde in der Schweiz ein Grossteil der Flüsse kanalisiert, Feuchtgebiete wurden trockengelegt. Dabei gehören sie zu den artenreichsten Lebensräumen: So können laut dem Bundesamt für Umwelt in den nationalen Auengebieten, die weniger als 1 Prozent der Landesfläche ausmachen, rund 80 Prozent aller einheimischen Tierarten vorkommen. Sind Flussrenaturierungen eine Chance für die Biodiversität?

Wenn sie richtig gemacht sind, ja. Man muss sich bewusst sein, dass wir den Flüssen in unserer intensiv genutzten Landschaft nie mehr so viel Raum geben können, dass sie wieder ihre natürliche Dynamik erhalten. Dennoch wäre meist mehr möglich. Etwa wenn kanalisierte Flüsse revitalisiert werden, die durch einen Wald fliessen, könnte man die neuen Dämme rund um den Wald herum errichten und den Wald der Dynamik des Flusses überlassen. Aber solche Dinge trauen wir uns leider nicht. Ein erfreuliches Beispiel ist die Renaturierung der Rhone bei Pfyn. Sie hatte einen unglaublich positiven Effekt auf die Biodiversität.

Die Rhonekorrektion sieht vor, das Flussbett wo möglich um den Faktor 1,6 zu verbreitern und ausgewählte Abschnitte punktuell noch stärker aufzuweiten. Sie stellten vor einigen Jahren eine eigene Vision vor.

Würden wir sämtliche Weiden und Mähwiesen, die heute in der Ebene zerstreut liegen, direkt an die Rhone verlegen, könnten wir zwischen dem Rhoneknie und Chippis einen 200 Meter breiten Grünkorridor schaffen. Würden nur Biodiversitätsförderflächen berücksichtigt, ergäbe das noch immer einen Korridor von 50 Metern Breite. Diese Flächen könnte man durch Bäume, Kleinstrukturen sowie kleine Wasserflächen aufwerten, die als natürliche Viehtränken dienen könnten. Davon würden Arten wie Smaragdeidechse, Gelbbauchunke und Blasenstrauch-Bläuling profitieren. Auch für die Landwirte wäre es einfacher, wenn ihre Wiesen und Weiden nah beieinander lägen. Und im Fall eines Hochwassers würde auf diesen Flächen nur ein minimaler wirtschaftlicher Schaden entstehen – anders als bei Industrie- und Wohngebieten, wo schnell Schäden in Millionenhöhe entstehen. Jetzt, wo unsere Regierung sagt, man müsse das Konzept nochmals überarbeiten, haben wir die Chance, genau das zu tun – und die Rhone so zu renaturieren, dass Hochwasserschutz, Landwirtschaft und die Biodiversität viel mehr profitieren. Und auch die breite Bevölkerung, die den Grünraum für Freizeitaktivitäten nutzen könnte.

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