Die Volksabstimmung zur Biodiversitätsinitiative richtet den Fokus auf den Wert der biologischen Vielfalt. Diese Vielfalt hat einen hohen ökonomischen Nutzen.
Biodiversität? Der Begriff hat in der Schweiz politische Prominenz erhalten. Gemeint ist die Vielfalt von Arten und von Lebensräumen (Ökosystemen) sowie die genetische Vielfalt innerhalb der Arten. Prominenz erhielt die Biodiversität vor allem durch die Volksinitiative, über welche die Urnengänger in knapp zehn Tagen befinden.
Der Vorstoss heisst in der abgekürzten Fassung «Biodiversitätsinitiative». Die Initiative geht weit über das Thema Biodiversität hinaus und fordert zum Beispiel auch verstärkten Schutz für Ortsbilder und das «baukulturelle Erbe». Das liefert viel Angriffsfläche für Kritiker.
Doch unabhängig von der Initiative: Die Bedeutung der Biodiversität auch als Wirtschaftsfaktor ist heute weit über Umweltorganisationen hinaus anerkannt. Viele Fachleute betonen zudem, dass die biologische Vielfalt auf globaler Ebene wie auch in der Schweiz abgenommen habe – und dass dies für den Menschen keine gute Sache sei.
Die Botschaft des Bundesrats von 2022 zur Volksinitiative und ein Bericht des Bundesamts für Umwelt von 2023 nannten einige Zahlen zur Schweiz. So sind zum Beispiel gut ein Drittel aller bekannten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten vom Aussterben bedroht («mehr Arten als je zuvor»). Zudem sei die Artenvielfalt in rund 30 Prozent der Schweizer Fliessgewässer mangelhaft. Und fast die Hälfte der bewerteten Lebensräume, wie etwa Flüsse und Bäche, Seen, Ufer, Grünland und Wälder, gälten als gefährdet.
Als wesentliche Ursachen nennt der Bund etwa die intensive Landwirtschaft mit dem Einsatz von Düngemitteln und Pflanzenschutzmitteln, die Ausdehnung der Siedlungsflächen, die Verkehrsinfrastruktur, die Trockenlegung von Gewässern und Mooren sowie die Verbauung von Flüssen und Bächen.
«Existenzgrundlage»
Der Bundesrat nennt die Entwicklung «besorgniserregend». Die Biodiversität ist aus Sicht des Menschen kein Selbstzweck, sondern eine Basis für Wirtschaft und Gesellschaft. «Biodiversität bedeutet Naturkapital und damit Chancen und Risiken für die längerfristige wirtschaftliche Entwicklung», betonte der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse schon 2020 in einer Analyse. Laut dem Bundesrat ist die Biodiversität die «Existenzgrundlage für den Menschen und die Wirtschaft».
Ökonomischer Nutzen entsteht unter anderem durch: fruchtbaren Boden für die Land- und Forstwirtschaft; sauberes Wasser; die Reinhaltung der Luft; die Bestäubung nützlicher Pflanzen; Schutz vor Naturkatastrophen wie Lawinen; natürliche Schädlingsbekämpfung; die Natur als Erholungsgebiet und Tourismusattraktion. Die Vielfalt macht die Natur zudem robuster gegenüber Änderungen des Umfelds.
Zahlen schinden Eindruck
Es geht nicht um Kleinkram. Auf globaler Ebene hängen auch wirtschaftlich orientierte Organisation das Thema ziemlich hoch. Gemäss dem jüngsten Bericht des Weltwirtschaftsforums von 2024 zu den globalen Risiken haben fünf der zehn meistgenannten Risiken mit der Natur zu tun, und der Verlust der Biodiversität steht auf Platz 3.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erklärte 2019 in einem Bericht, dass der geschätzte Wert der Biodiversitäts-Dienste global etwa 125 000 bis 140 000 Milliarden US-Dollar pro Jahr entspreche – bei einer offiziellen jährlichen Wirtschaftsleistung der Welt von zuletzt etwa 100 000 Milliarden Dollar. Laut Schätzungen der Weltbank könnten die Wohlfahrtseinbussen durch Biodiversitätsverluste schon 2030 global über 2 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ausmachen.
Viel zitiert ist die von der EU-Kommission bestellte Studie einer internationalen Forschergruppe von 2008. Die Forscher gingen von den damaligen Projektionen für das längerfristige Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum aus und leiteten daraus Annahmen über den Einfluss auf die Biodiversität ab. Aufgrund von Literaturanalysen und eigenen Schätzungen rechneten sie die erwarteten Biodiversitäts-Effekte in Geldwerte um. Die Kernbotschaft: Ohne Kurswechsel der Politik würden die Wohlfahrtseinbussen als Folge des Biodiversitätsverlusts jährlich steigen und 2050 rund 14 000 Milliarden Euro ausmachen – etwa 7 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung von jenem Jahr.
Auf Basis jener Studie hat das Berner Büro Ecoplan 2010 im Auftrag des Bundes versucht, die Kosten des künftigen Biodiversitätsverlusts auf die Schweizer Verhältnisse herunterzubrechen. 2050 wäre für die Schweiz laut der Ecoplan-Studie mit Wohlfahrtseinbussen von 2 bis 2,5 Prozent der Wirtschaftsleistung zu rechnen – in absoluten Zahlen etwa 14 bis 16 Milliarden Franken. Diese Zahlen werden seither auch vom Bund zitiert. Das Ecoplan-Papier macht aber deutlich, dass der geschätzte Verlust angesichts enormer methodischer Unsicherheiten nur als «illustrativer» Eindruck einer groben Grössenordnung zu verstehen ist.
Wacklige Grundlagen
Globale Schätzungen hätten einen «Aufmerksamkeitswert», sagt Bernd Hansjürgens, Professor für Umweltökonomie an der Universität Leipzig. Aber die Schätzunsicherheiten seien so gross, dass man den Fokus wohl besser auf Studien zu den einzelnen Diensten des Ökosystems wie zum Beispiel den Lawinenschutz richte. Auch zwei andere befragte Fachleute betonen, dass zuverlässige Schätzungen zum gesamten ökonomischen Wert der Biodiversität zurzeit kaum zu machen seien.
Auch Finanzaufsichtsbehörden werden zunehmend auf die Risiken des Biodiversitätsverlusts aufmerksam. 75 Prozent aller Firmenkredite im Euro-Raum gingen an Unternehmen, die von mindestens einer Ökosystemleistung der Natur abhängig seien, betonte 2023 eine Forschergruppe der Europäischen Zentralbank.
Allmählich scheint auch die Sensibilisierung der Investoren zu wachsen. Eine Studie von 2024, an der auch Forscher der Universität Zürich beteiligt waren, analysierte die Aktienkursentwicklung von über 2000 Firmen. Laut der Analyse haben internationale Ankündigungen zur Regulierung der Biodiversität von 2021 und 2022 in den Tagen danach die Aktienkurse von Firmen mit hohen Biodiversitätsrisiken gedrückt.
Bei diesen Ankündigungen ging es um künftige Berichterstattungspflichten der Firmen sowie um eine Zielvereinbarung von fast 200 Ländern. Eines der vereinbarten Ziele: Bis 2030 sollen total 30 Prozent der Land- und Binnenwasserfläche geschützt sein. Auch die Schweiz hat diese Vereinbarung unterzeichnet. Die Schutzgebiete in der Schweiz umfassen zurzeit knapp 14 Prozent der Landfläche.
Nutzen im eigenen Land
In der Klimapolitik haben die Ökonomen im Prinzip ein zielgerichtetes Mittel: Einbezug der gesellschaftlichen Kosten des Ausstosses von Treibhausgasen in die Preise via Lenkungsabgabe. Bei der Biodiversität gibt es dagegen keine einheitliche «Währung» à la CO2-Abgabe, wie der Umweltökonom Bernd Hansjürgens betont.
Trotzdem spricht er sich auch bei diesem Thema für Lenkungsabgaben aus, wo dies möglich sei – zum Beispiel bei den Preisen für Fleisch, wo die externen Kosten ein Mehrfaches der derzeitigen Marktpreise betragen könnten.
Senkt die Schweiz ihren CO2-Ausstoss, merkt das Land vom Klimanutzen direkt praktisch nichts: Der Nutzen verteilt sich global und ist entsprechend klein. Bei der Biodiversität fällt der Nutzen von Schutzmassnahmen dagegen in vielen Fällen im eigenen Land an.
Die Biodiversität kann aber auch globale Wirkung haben. So können Ökosysteme via CO2-Bindung das Klima beeinflussen. Die Natur ist auch bedeutend als Grundlage für global einsetzbare Medikamente. «Etwa 70 Prozent aller Krebsmedikamente haben einen natürlichen Ursprung», betont ein Bericht der Beratungsfirma PwC und des WWF. Laut Bernd Hansjürgens kaufen westliche Pharma- und Agrochemiekonzerne Land in den Tropen zwecks Erhaltung eines genetischen Pools.