Freitag, September 27

Lange Zeit war es ruhig geworden um BioNTech. Jetzt bringen Studiendaten eines Krebsmedikaments den einstigen Coronaprofiteur schlagartig zurück in den Fokus der Börse. Ein näherer Blick zeigt: Das Unternehmen hat noch mehr zu bieten.

Vorletzte Woche war es so weit: Nach knapp fünf Jahren hat BioNTech ihren US-Konkurrenten Moderna 📈in Sachen Börsenwert erstmals wieder eingeholt. Während das Mainzer Biotech-Unternehmen derzeit rund 28 Mrd. $ auf die Waage bringt, schafft es Moderna nur noch auf 24,5 Mrd. $.

Diese «Wachablösung» zeigt sich auch im Aktienkursverlauf. Die Titel der beiden einstigen Coronaprofiteure haben sich besonders während der Pandemiejahre nahezu identisch entwickelt – als beide Unternehmen mit dem Verkauf ihrer mRNA-Impfstoffe Berge an Cash anhäuften. Fiel das eine Unternehmen mit guten Nachrichten auf, zog es die Aktien des anderen Unternehmens meist mit nach oben. Ähnlich verhielt es sich bei schlechten Nachrichten.

Moderna mit Problemen

Dass sich in den letzten Wochen und Monaten die Kräfteverhältnisse gedreht haben, liegt zum einen an der Schwäche von Moderna, zum anderen auch an der Stärke von BioNTech. «Bei Moderna zeigte sich zuletzt, dass sich der mRNA-Impfstoff gegen das RS-Virus am Markt schwertut», sagt Markus Manns, Portfoliomanager bei der Fondsgesellschaft Union Investment. RSV ist weltweit eine der häufigsten Ursachen für Atemwegserkrankungen. Mit GSK und Pfizer haben zwei Pharmaschwergewichte bereits Impfungen auf dem Markt. «Als drittes Unternehmen ist es schwierig, dort einzudringen», meint Manns.

Gleichzeitig hat die US-Gesundheitsbehörde FDA die vorzeitige Zulassung ihres personalisierten Hautkrebsimpfstoffs, den Moderna zusammen mit Merck entwickelt, abgelehnt. Das Management sah sich schliesslich gezwungen, die Notbremse zu ziehen: Vor rund zwei Wochen meldete das US-Unternehmen, die Forschung stark zu reduzieren und die Entwicklung einiger Medikamente auszusetzen oder sogar komplett einzustellen. Die Gewinnschwelle soll nun erst 2028 statt 2026 erreicht werden.

Der Aktienkurs von Moderna reagierte entsprechend:

BioNTech sorgt für erfreuliche Schlagzeilen

Besser ist die Stimmung in diesen Tagen in Mainz. Nachdem es in den vergangenen zwei Jahren etwas ruhig geworden war um BioNTech, lässt das Unternehmen seit einigen Wochen mit einem Produktkandidaten mit dem sperrigen Namen BNT327 aufhorchen. Dabei geht es um einen bispezifischen Antikörper, der in der Krebsbekämpfung – genauer: in der Immunonkologie – neue Massstäbe setzen könnte.

Bispezifische Antikörper sind aus Bestandteilen von zwei unterschiedlichen monoklonalen Antikörpern aufgebaut und daher in der Lage, zwei Zielmoleküle gleichzeitig anzusteuern. Bisherige Blockbuster-Medikamente in der Krebsimmuntherapie sind lediglich in der Lage, ein Ziel zu binden.

Warum regt das die Fantasie der Börse an? Die Antwort liegt in der Hoffnung, dass BioNtech den derzeitigen Platzhirsch in der Immunonkologie, das Krebsmedikament Keytruda vom US-Pharmakonzern Merck, ernsthaft in Bedrängnis bringen könnte.

Keytruda: die (bisher) führende Krebsimmuntherapie

Zur Erklärung: Das menschliche Immunsystem ist im Normalfall in der Lage, fremde oder abnormale Zellen zu identifizieren und zu zerstören. Einige Krebszellen schaffen es jedoch, vereinfacht ausgedrückt, sich vor dem Immunsystem zu «verstecken», indem sie bestimmte Proteine auf der Oberfläche platzieren, die das Immunsystem täuschen und somit eine Immunreaktion verhindern – mit dem Ergebnis, dass sich der Krebs weiter ausbreitet. Eines dieser «bösen» Proteine ist das sogenannte PD-L1.

Das derzeitige «State-of-the-Art-Medikament» in der Immunonkologie, Keytruda, blockiert dieses PD-L1-Protein und versetzt das Immunsystem dadurch wieder in die Lage, die Krebszellen anzugreifen. Seit der Einführung vor zehn Jahren hat sich das Medikament zur Standardtherapie bei verschiedenen Krebsarten entwickelt.

Mit einem Umsatz von 25 Mrd. $ war Keytruda 2023 das mit Abstand meistverkaufte Medikament der Welt. Experten schätzen, dass sich der Verkauf bis 2030 auf jährlich 30 Mrd. $ steigert.

Hat BioNTech die führende Krebsimmuntherapie von morgen?

BioNTechs bispezifischer Antikörper BNT327 greift ebenfalls das PD-L1-Protein an, bekämpft zusätzlich jedoch ein zweites Protein, das das Krebszellenwachstum fördert – das sogenannte VEG-A. Dabei handelt es sich grundsätzlich um ein für den Körper wichtiges Protein, das bei Verletzungen z. B. die Bildung neuer Gefässe aktiviert und so die Heilung beschleunigt. Allerdings unterstützen VEG-A-Proteine auch Krebszellen bei der Blutversorgung – und regen somit ihr Wachstum an.

Dadurch, dass der bispezifische Antikörper beide Proteine – PD-L1 und VEG-A – blockiert, erhoffen sich die Forscher von BioNTech eine noch bessere Wirkung als bei der Standardtherapie mit Keytruda. Dass dies gelingen könnte, hat vor rund drei Wochen Summit Therapeutics📈 gezeigt. Das kalifornische Biotech-Unternehmen verfolgt mit seinem bispezifischen Antikörper Ivonescimab einen ähnlichen Ansatz wie BioNTech.

In einer in China durchgeführten Phase-III-Studie verringerte Ivonescimab bei einer bestimmten Art von Lungenkrebs (NSCLC) das Risiko eines Fortschreitens der Erkrankung oder des Todes um 49% im Vergleich mit Keytruda (Pembrolizumab). Zudem hat sich die sogenannte progressionsfreie Überlebenszeit – also die Zeit, in der sich die Krankheit nicht verschlimmert – von knapp sechs Monaten (Keytruda) auf über elf Monate (Ivonescimab) fast verdoppelt.

Die Aktien von Summit Therapeutics haben aufgrund dieser Meldung vorletzte Woche um bis zu 100% zugelegt, in den vergangenen zwölf Monaten hat sich der Kurs der Aktien verzehnfacht. Dass sich der vielversprechende bispezifische Antikörper der US-Amerikaner bereits in der fortgeschrittenen Entwicklungsphase (Phase-III) gegen Lungenkrebs befindet und in China zugelassen ist, sind die Gründe, warum die Aktien von BioNTech ebenfalls avancieren, obwohl sich BNT327 mit einem ähnlichen Antikörper erst in Phase-II befindet.

Pipeline von BioNTech ist breiter geworden

Ein grosser Vorteil ist die breite Anwendbarkeit des spezifischen Antikörpers. Während ein Grossteil der Aufmerksamkeit für die Klasse auf verschiedenen Formen von Lungenkrebs gerichtet ist, betont die US-Investmentbank Morgan Stanley, dass der Kandidat auch bei anderen Krebsarten vielversprechend sei. BioNTech diskutiert derzeit Pläne für weitere Studien für Brustkrebs. Die Analysten stuften die Aktien diese Woche auf «Overweight» hoch.

Doch wie wichtig ist das neue Feld für BioNTech?

Das Unternehmen selbst betont auf Anfrage, dass bei der Bekämpfung von Krebs eine Kombination verschiedener Ansätze notwendig sei. Man entwickle daher mRNA-basierte Behandlungen, Immunmodulatoren und zielgerichtete Therapien. Die einzelnen Ansätze sollen perspektivisch auch kombiniert werden, um synergistische Potenziale zu erschliessen. «Neben den mRNA-Plattformen von BioNTech ist BNT327 ein zentrales Kernstück der Strategie zur Entwicklung von Kombinationsansätzen», sagt das Unternehmen.

Manns von Union Investment rechnet damit, dass die Mainzer im kommenden Jahr eine Phase-III-Studie für BNT327 starten werden. Auch er bewertet die neuesten Entwicklungen der bispezifischen Antikörper als positiv, macht jedoch auch gewisse Einschränkungen. «Die Studie von Summit wurde in China durchgeführt, was nicht immer dieselbe Qualität verspricht wie Studien aus Europa oder den USA.» Ein Punkt, den auch Kristoffer Unterbruner betont, Molekularbiologe und Portfoliomanager beim deutschen Healthcare-Investmentmanager Medical Strategy. «Chinesische Studien sind oft weniger transparent und daher immer etwas kritischer zu betrachten.»

Trotzdem zeigt sich Unterbruner über die jüngsten Entwicklungen bei den Mainzern zufrieden. Lange Zeit habe ihm trotz voller Pipeline eine klare Strategie gefehlt. Das habe sich geändert – auch dank zahlreicher günstiger Zukäufe in China. «BioNTech hat ihre Pipeline bei fortgeschrittenen Entwicklungsprogrammen komfortabel ausgebaut.»

Tatsächlich zählt die Entwicklungspipeline von BioNTech mittlerweile elf Produktkandidaten, die sich in Phase-II befinden, vier haben bereits die Phase-III erreicht. Zum Vergleich: Vor zwei Jahren hatten die Mainzer noch keinen einzigen Produktkandidaten in der dritten und letzten Studienphase im Portfolio. «Über vierzig aktive klinische Studien, in denen Medikamente getestet werden, sind extrem viel für ein Biotech-Unternehmen und zeigt, wie breit diversifiziert BioNTech ist», sagt Unterbruner.

BioNTech hat mittlerweile mehrere Standbeine

Für BioNTech spricht langfristig, dass es – anders als etwa Moderna – kein reines mRNA-Unternehmen mehr ist, sondern mehrere Standbeine hat. Neben der mRNA-Plattform gewinnen besonders die proteinbasierten Therapeutika an Bedeutung. Zu ihnen zählt auch der bispezifische Antikörper BNT327. «Dieses zweite Standbein könnte mittlerweile sogar wichtiger als die mRNA-Plattform sein», glaubt Manns. Dies, weil die mRNA-Forschung ausserhalb der Impfstoffe derzeit nur wenig Fortschritte mache. Gleichzeitig erfolgten einige Einlizensierungen aus China im Bereich der proteinbasierten Therapeutika.

BNT327 wurde erst 2023 vom chinesischen Biotech-Unternehmen Biotheus für nur 55 Mio. $ plus 1 Mrd. $ an erfolgsabhängigen Meilensteinzahlungen einlizensiert.

Unterbruner setzt im Bereich der proteinbasierten Therapeutika auch und vor allem auf die sogenannten Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (ADC) von BioNTech. Solche Wirkstoffe kombinieren die zellabtötenden Eigenschaften von Chemotherapeutika mit der Spezifität von Antikörpern. Im Gegensatz zur herkömmlichen Chemotherapie zielen ADC direkt auf den Tumor, ohne gesunde Zellen zu schädigen. Experten sehen hier einen wachsenden Multimilliardenmarkt.

Gemäss Evaluate Pharma erreichte das Marktvolumen für ADC 2023 erstmals 10 Mrd. $; bis 2028 soll es sich auf 28 Mrd. $ fast verdreifachen. Führend im Geschäft mit ADC ist derzeit der britisch-schwedische Pharmariese AstraZeneca, der zusammen mit seinem japanischen Partner Daiichi Sankyo das Blockbuster-Medikament Enhertu vertreibt.

Genug Geld ist vorhanden

Bis Ende Jahr soll in der Entwicklungspipeline noch einiges passieren. BioNTech bestätigt gegenüber The Market das Ziel, bis Ende 2024 zehn oder mehr potenziell zulassungsrelevante Studien in der Pipeline zu haben. Doch auch darüber hinaus bietet die prall gefüllte Pipeline des Unternehmens genügend Fantasie dafür, dass aus dem einstigen Coronaprofiteur, der vor allem für seine Covid-Impfung bekannt ist, ein globaler Player in der Onkologie werden kann.

Finanziellen Spielraum haben die Mainzer dank einem noch immer dicken Cashpolster. Ende Juni beliefen sich die Barmittel (Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente) auf rund 18,5 Mrd. €. Damit machen die liquiden Mittel – trotz der jüngsten Aufwärtsbewegung an der Börse – noch immer knapp 70% der Marktkapitalisierung aus. Will heissen: Auch wenn es zu Rückschlägen kommen sollte, hat BioNTech noch genügend Pulver für weitere Versuche.

Sicher: Biotech-Investments sind mit einem erhöhten Risiko verbunden. Das gilt ebenso für die Aktien von BioNtech. Auch wenn die Pipeline gut gefüllt ist und sich einige Kandidaten bereits im fortgeschrittenen Entwicklungsstadium befinden, gibt es keine Garantie auf Erfolg. The Market bleibt grundsätzlich bei der Einschätzung vom letzten Jahr, dass ein Investment in das Unternehmen vielversprechend, aber auch riskant ist.

Und dennoch: Das Chancen-Risiko-Verhältnis von BioNTech ist für ein Biotech-Unternehmen äusserst attraktiv – und hat sich durch die jüngsten Einlizenzierungen aus China weiter verbessert. Man muss lange suchen, um ein derart breites Angebot von Produktkandidaten zu solch einem Preis zu bekommen.

Hendrik Leber hat den Investment Case von BioNTech kürzlich gegenüber The Market wie folgt auf den Punkt gebracht. «Der Marktwert für eine gute Krebsanwendung liegt bei rund 30 Mrd. €. Falls zwei Kandidaten von BioNTech durchkommen, hätten wir vielleicht 60 Mrd. Börsenwert.» Man bekomme das Unternehmen als Anleger also fast kostenlos. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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