Mittwoch, Oktober 9

Schläge in der Schule waren im letzten Jahrhundert an der Tagesordnung – besonders beliebt waren «Tatzen».

Es ist Lehrpersonen streng verboten, Schulkinder zu züchtigen, also körperlich zu bestrafen. Wird ein Lehrer dennoch tätlich, so hat er mit schweren Konsequenzen zu rechnen. «Ohrfeigen etwa sind eine strafbare Handlung, die als Körperverletzung gewertet wird. Sie zieht disziplinarische sowie strafrechtliche Konsequenzen nach sich», sagt Beat Schwendimann, Leiter Pädagogik des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Bei den Eltern der Schulkinder wird der fehlbare Lehrer sowieso untendurch sein. Sie werden ihn nicht mehr akzeptieren – selbst wenn sie ihr Kind selber ohrfeigen.

Noch im 20. Jahrhundert waren in der Schweizer Volksschule Körperstrafen an der Tagesordnung. Die meisten Kantone erlaubten sie ausdrücklich; nur Genf, Neuenburg, das Tessin und das Wallis verboten sie. Basel-Stadt gestattete die Züchtigung von Knaben, nicht aber von Mädchen.

Zürich zählte zu den straffreundlichsten Kantonen. Die Volksschulverordnung erlaubte Züchtigungen bis 1985. Diese sollten zwar nur «in Ausnahmefällen» erfolgen, die Lehrperson durfte sich «nicht vom Zorne hinreissen lassen» und musste «sorgfältig sich alles dessen enthalten, was das körperliche Wohl oder das sittliche Gefühl des Schülers gefährden könnte».

Faktisch jedoch kam die Regelung einem Freibrief gleich, denn im Selbstverständnis des strafenden Lehrers dürfte die Sanktion immer den Zweck gehabt haben, einen «Ausnahmefall» auf den rechten Weg zu bringen. Noch bis 2005 galten Schläge durch Lehrer «in gewissen Fällen» als entschuldbar. Damit sollten diese geschützt werden. Denn das Bundesgericht hatte schon 1991 festgehalten, Züchtigungen in der Schule seien verboten.

Am häufigsten waren «Tatzen»

Wie aber sah die Strafpraxis in der Schulstube aus? Der Historiker Stefan Bartholet wollte es genauer wissen. Für seine Dissertation «Von Ohrfeigen, Tatzen und Kopfnüssen» (Chronos-Verlag 2024) befragte er rund tausend zufällig ausgewählte Personen schriftlich, wie sie das Strafen und Bestraftwerden in ihrer Schulzeit erlebt hätten. Abgedeckt werden vor allem die Jahre zwischen 1945 und 1985; die meisten der Befragten gingen im Kanton Zürich zur Schule, einige gaben aber auch Auskunft zu anderen Kantonen.

Die vom Autor festgehaltenen Antworten lassen tief blicken. Die Schule erscheint als ein Labor für Strafen und Demütigungen, das von den Lehrpersonen rege genutzt wurde. Die Frage, die der Philosoph Michel Foucault einst aufwarf, nämlich wie man es fertiggebracht habe, dass die Menschen das Bestraftwerden ertrügen, scheint ihre Antwort gefunden zu haben: Die Züchtigungen in der Schulstube gehörten quasi zum Unterrichtsprogramm, die Kinder mussten damit leben.

Die Bestrafungen nahmen im Lauf der Zeit ab, aber sie hörten nicht auf. Rund 80 Prozent der vom Autor befragten Personen berichten, von einem Lehrer oder einer Lehrerin gezüchtigt worden zu sein oder Züchtigungen mit angesehen zu haben. Die am häufigsten genannte Strafart sind die «Tatzen»: Schläge mit dem Lineal auf den Handrücken oder die geöffnete Innenhand. Es folgen Ohrfeigen und das Beworfenwerden mit Gegenständen, Kopfnüsse und das An-den-Ohren-oder-Haaren-gezerrt-Werden.

Weitere Züchtigungen waren Schläge mit der Hand auf den Hinterkopf, «Baggetrüller» (das schmerzhafte Kneifen in die Wange) und «Hosenspanner» (Schläge auf den Hintern) sowie Prügel, die zu blauen Flecken führten. Viele Befragte berichten von Verletzungen: von blutenden Fingerknöcheln und ausgerissenen Haaren, von geschwollenen Backen und angerissenen Ohren.

Züchtigung als halböffentliches Spektakel

Besonderen Einfallsreichtum bewiesen die Lehrer beim Werfen von Gegenständen: Das Spektrum reicht von Lineal und Schlüsseln über Blockflöte und Tabakpfeife bis zu Schwammbüchse, Schreibstiften und Scherenschachteln.

Dazu kommen die nichtkörperlichen Strafen, die Bartholet ebenfalls erhoben hat. Befragte notierten, sie hätten das Schulzimmer verlassen und Texte abschreiben sowie nach dem Unterricht nachsitzen müssen, sie seien mit lauten Worten beschimpft worden, hätten in die Ecke stehen oder einen «Eselshut» aufsetzen müssen.

Kein Thema der Untersuchung ist der weite und schwierig zu fassende Bereich der psychischen Strafen, wenn etwa der Lehrer einen Schüler systematisch ignoriert oder verbal mit so feiner Klinge verletzt, dass dieser seinen seelischen Schmerz kaum artikulieren kann.

Brachial dagegen mutet die «Tatze» an, die am häufigsten genannte Strafe. Mit ihr bläst sich die Züchtigung zum halböffentlichen Spektakel auf, das den Lehrer zum absoluten Richter erhebt und den Schüler zum rechtlosen Unterworfenen degradiert. Quasi ohne Affekt – wie von der Zürcher Volksschulverordnung gefordert – lässt der Lehrer Gerechtigkeit walten und vollzieht seine Strafe, die der Schüler mit ausgestrecktem Arm über sich ergehen lassen muss. Die schwarze Pädagogik sollte ihm eine Lehre fürs Leben sein.

Im Widerspruch zur Fachliteratur

Die körperlichen Bestrafungen gewinnen noch an Drastik, wenn man sie mit den Gründen kontrastiert, welche die Befragten angeben. Die meisten berichten von «Schwatzen» und Lärmen im Schulhaus, von nicht erledigten Hausaufgaben, schmutzigen Händen oder davon, nicht aufgepasst oder der Lehrperson widersprochen zu haben. Die Strafen erscheinen als reine Willkür.

Frappant an dem von Bartholet erhobenen Panoptikum des Strafens ist, dass sämtliche Züchtigungen im Widerspruch zur pädagogischen Fachliteratur erfolgten. Hatte Johann Heinrich Pestalozzi noch um 1800 Ohrfeigen in der Schulstube ausdrücklich gebilligt, so forderte die schwedische Reformpädagogin Ellen Key 1902 die Abschaffung von Körperstrafen. Die pädagogische Lehre folgte ihr mehrheitlich, Erziehungswissenschafter bezweifelten gar den Wert des Bestrafens von Kindern überhaupt, bis heute. 1968 ermahnte die Zürcher Erziehungsdirektion die Lehrpersonen, im Schulzimmer keine Ohrfeigen zu verteilen. In der Praxis flatterten sie munter weiter.

Heute sind Körperstrafen in der Schule ebenso tabu wie psychische Gewalt. Dies lernen angehende Lehrerinnen und Lehrer an der pädagogischen Hochschule. Die Gesellschaft hat der Schule das Züchtigungsrecht entzogen. Nicht aber dem Elternhaus.

Die Freiburger Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach (EVP) will dies ändern. Ihre Motion verlangt, das «Recht auf gewaltfreie Erziehung» im Zivilgesetzbuch zu verankern. Damit würden Ohrfeigen und «Kopfnüsse» strafbar – nicht nur solche, die von Lehrern an ihre Schüler, sondern auch solche, die von Eltern an ihre Kinder verteilt werden. Zwanzig Länder Europas haben nicht nur körperliche Gewalt gegen Kinder, sondern auch die physische und psychische Androhung von Gewalt unter Strafe gestellt.

Laut einer Studie der Stiftung Kinderschutz Schweiz wird rund die Hälfte aller Kinder, die jünger als sechs Jahre sind, von den Eltern ab und zu physisch und psychisch misshandelt, sechs Prozent regelmässig. Ebenfalls laut einer Umfrage der Stiftung finden zwanzig Prozent der Eltern, «Kopfnüsse» oder Schläge auf den Hintern seien eine gewaltfreie Sanktion. Da stellt sich die Frage: Wie hat man es fertiggebracht, dass Eltern es ertragen, ihre Kinder zu misshandeln?

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