Donnerstag, November 28

Das Risiko einer US-Rezession dürfte grösser sein, als die Investoren vermuten. Die Markttechnik ist eher negativ, und die Bewertung harrt im Niemandsland. Erst die US-Wahl könnte neuen Schwung bringen, auch mit Donald Trump.

Seit mehr als einem Jahr entwickeln sich die Börsenindizes besser, als dies aufgrund der schärfsten Anti-Inflationspolitik in den USA seit den frühen Achtzigerjahren zu erwarten gewesen wäre. Hintergrund des Aktienaufschwungs ist die Hoffnung, dass rückläufige Inflationsraten deutliche Senkungen des US-Notenbankleitzinses erlauben werden.

Die Aussicht auf sinkende US-Zinsen hat sich jedoch seit Jahresbeginn stark eingetrübt. Einige Notenbankmitglieder hielten wegen anhaltend hoher Inflation (besonders bei der Kernrate) zuletzt sogar erneute Zinssteigerungen für sinnvoll. Letzteres würde die Aktienkurse mit Sicherheit überraschend stark drücken, denn die bisherigen Kurssteigerungen nahmen die erwarteten Zinssenkungen vorweg.

Negative Markttechnik, uninspirierende Bewertung

Die Markttechnik wirkt eher negativ. Ein Beispiel: Bekanntlich ist es ein gutes Zeichen, wenn der Markt von unten nach oben durch die 200-Tage-Linie bricht und sich anschliessend darüber befindet. Das spricht für prozyklische Käufe und einen Aufwärtsmarkt. Entfernt sich der Index jedoch zu weit von seinem Mittelwert, dann ist Achtung geboten, denn die Rückkehr zum Mittelwert ist sicher. Man muss nicht unmittelbar die Reissleine ziehen, aber erhöhte Wachsamkeit schadet nicht. Insbesondere dann, wenn gleichzeitig (wie jetzt) die Marktbreite nicht überzeugend ist.

Bewertungsmässig befinden sich die Börsen im Niemandsland. Das deutsche Kurs-Buchwert-Verhältnis, das bei niedrigen Werten in der Vergangenheit ein guter Kaufindikator und bei hohen Werten ein gutes Verkaufssignal war, befindet sich mit 1,6 genau auf der Höhe des langfristigen Durchschnitts.

In den USA ist die Bewertung bezogen auf die Gewinne (noch mehr die Substanz bei Kurs-Buchwert 4,5) zwar hoch, aber wenn man die sieben grossen Wachstumswerte, die im letzten Jahr fast die gesamte Börsenentwicklung und in diesem Jahr rund die Hälfte des Anstiegs ausmachten, weglässt, liegen die US-Bewertungsverhältnisse nicht ganz so ungewöhnlich hoch.

Zwischen 1980 und 2007 (also einer keineswegs schlechten Börsenzeit) war die Situation nicht viel anders als heute. Zwar ist die US-Dividendenrendite von unter 1,5% (vor allem real) niedrig. Aber zusammen mit der Verzinsung, die Anleger durch Aktienrückkäufe erhalten, liegt man dann mit dem sogenannten «Total Shareholder Return» doch wieder deutlich über einer Rendite von 3%.

Zinsanstieg wirkt mit besonders langer Verzögerung

Trotz einiger positiver Überraschungen bei den US-Quartalsgewinnen können die jüngsten Gewinnverbesserungen (letztes Jahr Gewinne plus 1%) die Steigerungen der Aktienkurse dieses Jahres nicht rechtfertigen. Bei 1,6% Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal waren auch kaum grössere Gewinnsteigerungen möglich.

Während die Börsenteilnehmer hauptsächlich auf zukünftige Gewinne im Zuge zukünftiger Zinssenkungen fixiert sind, zeichnen sich immer mehr Konjunkturbelastungen als Folge der bisherigen Zinssteigerungen ab, die in diesem Zyklus mit grosser Verspätung wirksam werden. Ein Beispiel dafür: 76% der US-Haushypotheken müssen bis Ende 2026 erneuert werden (bisher zahlen 57% unter 4% Zins).

Tatsächlich zeigen viele US-Konjunkturindikatoren in jüngster Zeit überraschend abwärts (Ausnahme war der S&P Global PMI). Man fragt sich, was für die Börse besser wäre: eine langsame Abflachung von Konjunktur und Inflation verbunden mit langsamen Zinssenkungen oder schnelle Zinssenkungen in Folge von überraschend deutlich schlechteren Konjunktursignalen und einer drohenden Rezession. Je schneller die Zinssenkungen in der Vergangenheit stattfanden, desto schlechter entwickelte sich die Börse im Hinblick auf Rezessionen (so wie 2001 und 2007). In Zyklen, in denen das Fed dagegen die Zinsen langsam fünfmal in zwölf Monaten senkte, stieg der S&P sogar danach um durchschnittliche 24%.

Janet Yellen ist die Mutter des Börsenaufschwungs

Die gute US-Konjunktur und die überraschend gute Börsenentwicklung dürften weitestgehend der äusserst grosszügigen Verschuldungspolitik der US-Finanzministerin Janet Yellen zu verdanken sein. Während Verschuldungsgrössen von 15% des Bruttoinlandsprodukts in den USA 2020 zwar so hoch waren wie im Zweiten Weltkrieg, aber im Hinblick auf die Covid-Gefahren begründet sein mögen, war die jüngste Verdopplung der US-Neuverschuldung auf circa 7% weder im Hinblick auf die Inflation sinnvoll noch im Hinblick auf die Konjunktursteuerung gerechtfertigt. Zum Vergleich: Die Defizitgrenze für Euro-Mitgliedsstaaten laut Maastricht-Vertrag beträgt bekanntlich 3%.

Wenn nun die Neuverschuldung in diesem Jahr zurückgeht (wonach es aussieht), müsste sich die Konjunktur eigentlich überraschend verschlechtern. Dann wären auch die Aussichten für die Unternehmensgewinne und die Börsenentwicklung ungünstiger als erwartet. Die US-Notenbank könnte sich dann nicht den Luxus leisten, die Zinsen langsam zurückzunehmen (ein Szenario, in dem in der Vergangenheit die Börse gut abschnitt), sondern müsste überstürzt stark senken, um Konjunktur und Arbeitsmarkt zu stützen, was dem zweiten, oben beschriebenen – ungünstigen – Börsenszenario entsprechen würde.

In einem solchen Fall würden wahrscheinlich auch die sieben US-Aktiengiganten, die inzwischen fast ein Drittel der S&P-500-Börsenkapitalisierung ausmachen und 22% der für 2024 erwarteten Gewinne, die Situation nicht retten können. Zuletzt wiesen die «Magnificent Seven» Umsatzsteigerungen von 14% gegenüber Vorjahr aus (deutlich mehr als die lediglich 2% Plus der restlichen S&P-493-Aktien). Aber selbst bei den grossen Wachstumsaktien dürfte es im beschriebenen ungünstigen Szenario mit dem überdurchschnittlichen Wachstum vorbei sein.

Die wenig bekannte Liquiditätsquelle des Markts versiegt

Börsenmässig dürfte in Zukunft nicht nur die verminderte Neuverschuldung beziehungsweise schwächere fiskalpolitische Konjunkturstimulierung wichtig sein, sondern auch die sich abzeichnende verschlechternde Börsenliquidität. In den letzten zwei Jahren war der Hauptliquiditätsbörsentreiber der Anschub der freien Bankenliquidität durch 2000 Mrd. $ Zusatzliquidität aus der Auflösung von Repo-Investments durch die US-Geldmarktfonds. Inzwischen ist diese Liquiditätszufuhr ins Stocken geraten und hätte auch nur ein theoretisches Restpotenzial von 500 Mrd. $.

US-Finanzministerin Yellen steuert nicht nur die US-Neuverschuldung, sondern ist auch in Sachen China-Politik eine der schärfsten politischen Falken der US-Regierung. Sie vertritt die massiven Zollerhöhungen in Richtung China. Während die Globalisierung unter dem Strich weltweit zu verbesserter Beschäftigung und erhöhtem Wohlstand geführt hat, bremsen Zölle und Sanktionen der Politiker die Weltwirtschaft und werden zu einer Verminderung des Wohlstands führen.

Staatsverschuldung und Arbeitsmarkt als Risikofaktoren

Wirtschaftliche Probleme, die sich aus der Geopolitik ergeben, wird man in der Zukunft nicht ohne weiteres durch die bewährten Mittel der Vergangenheit wie massive Neuverschuldung plus Zinsrückgang auffangen können. Selbst der für eine chronisch expansive Konjunkturpolitik bekannte amerikanische Ökonom Paul Krugman konnte sich zuletzt nicht entscheiden, ob angesichts der bisher eingetreten Schuldenexplosion (USA auf dem Niveau Italiens vor wenigen Jahren) eine konjunkturstimulierende Politik der US-Notenbank und Regierung wirklich angebracht wäre. Man sollte Staatsverschuldungsprobleme nicht zu dramatisch sehen, da Notenbanken sich bekanntlich unendlich selbst verschulden können, aber wenn im nächsten Jahr ein US-Präsident Donald Trump (wie in seiner ersten Amtszeit) die Staatsneuverschuldung nochmal verdoppelt, könnte es sein, dass dann über steigende Zinsen an den Anleihemärkten doch eine gefährliche Unruhe ins Finanzsystem kommen könnte.

Obwohl nur noch 15% der US-Börsenbeobachter eine US-Rezession für möglich halten, sprechen die Arbeitsmarktzahlen eine andere Sprache. Gleiches gilt für die inverse Zinskurve. Zwar liegt der Sahm-Rezessionsfrühindikator (benannt nach Claudia Sahm) – der eine Rezession oft gut ankündigt, wenn die Dreimonatsdurchschnitts-US-Arbeitslosenquote um 0,5% steigt – noch unter seinem Warnsignal. Es gibt aber selektive Arbeitsmarktzahlen, die zur Vorsicht mahnen. Bezogen auf die Einzelstaaten haben 26 US-Staaten bereits nach der Sahm-Regel einen entsprechenden verschlechterten Arbeitsmarkt aufzuweisen. Das Gleiche gilt für die (höhere) Arbeitslosigkeit jüngerer US-Arbeitnehmer. Die Wahrscheinlichkeit für eine US-Rezession dürfte damit grösser sein als allgemein an der Börse vermutet.

Sinkende Zinsen und die US-Wahl als Impulsgeber im Herbst

Für eine Zinssenkung im Herbst (Wahrscheinlichkeit September: 60%) spricht auch der Basiseffekt. Da im Vorjahr im August/September die Preise besonders stark gestiegen waren, könnte die US-Inflationsrate (gegenüber Vorjahr) im August und September allein bedingt durch den Basiseffekt um 0,3% zurückgehen.

Das durch schlechte Wirtschaftspolitik verursachte schwache Wirtschaftswachstum wird die Europäische Zentralbank (EZB) auf der nächsten Sitzung am 6. Juni veranlassen, die Zinsen noch vor den USA zu senken. Im zweiten Halbjahr wird es aber angeblich laut EZB keine weitere Zinssenkung geben. Eigentlich sollten bessere Aktienkurse und (wegen der Zinssenkung) ein niedrigerer Euro beziehungsweise ein steigender Dollar (günstig für den Export) die Folge sein. Allerdings ist die 0,25%-Zinssenkung wohl schon in den Kursen eingepreist. Für Banken und Versicherungen sind niedrigere Zinsen gewinnmässig ein Nachteil.

Man fragt sich, was bis zum Herbst an positiven Faktoren die Börsentendenz allgemein nach oben bringen könnte. Realisten gehen davon aus, dass erst nach der US-Wahl im November (wie häufig) wieder eine allgemein positive Börsentendenz einsetzen wird. Ein solcher Börsenaufschwung geschähe möglicherweise im Zuge einer erneuten Wahl Trumps zum US-Präsidenten. Trump steht aus Sicht der Finanzmärkte für die Förderung der Wirtschaftsinteressen und weniger für die Verschärfung der politischen Machtkämpfe, die bekanntlich den Unternehmensgewinnen schaden.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der «Finanzwoche», dem seit 1974 erscheinenden Investmentbulletin von Jens Ehrhardt.

Jens Ehrhardt

Jens Ehrhardt ist Gründer, Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender von DJE Kapital. Nach fünfjähriger Partnerschaft in der seinerzeit grössten deutschen Wertpapier-Vermögensverwaltungs-Gesellschaft promovierte er 1974 über «Kursbestimmungsfaktoren am Aktienmarkt». Im selben Jahr legte er den Grundstein für den Aufbau seiner Firmengruppe, die er von Beginn an leitet. Ehrhardt verantwortet neben seiner Rolle als Vorstandsvorsitzender noch die Bereiche Risikomanagement und Unternehmens-/Anlagestrategie.

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