Dienstag, August 26

Mehr als der Name ist heute kaum mehr bekannt von den Hunnen. Der Historiker Mischa Meier schreibt die Geschichte eines Volkes, das am Rand der «klassischen Antike» stand.

Im Juli 1900 hielt der deutsche Kaiser Wilhelm II. in Bremerhaven eine Rede, die in den Zeitungen schon bald als «Hunnenrede» bezeichnet wurde. Anlass war die Verabschiedung deutscher Truppen, die nach China entsandt wurden. Sie hatten den Auftrag, dort einen Aufstand gegen die Kolonialmächte niederzuschlagen, der als «Boxeraufstand» in die Geschichte eingegangen ist.

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In seiner Rede rief der deutsche Kaiser die etwa 3500 Soldaten zu äusserster Härte auf und sagte schliesslich: «Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!»

Zunächst kursierten zensierte Versionen der Rede, in denen diese Passage entweder fehlte oder abgemildert worden war. Aber Journalisten, die vor Ort waren, brachten das Original in Umlauf. Das rief Empörung hervor. Der Kaiser habe nicht als Diplomat, sondern als Soldat gesprochen, hiess es. Historiker kritisierten, der Hunnenvergleich sei ein Beispiel für die mangelnde Selbstkontrolle eines Herrschers.

Aus den Steppen Eurasiens

Doch wer waren die Hunnen eigentlich? Und weshalb berief sich der deutsche Kaiser auf sie als vermeintlich wilde Horde? Eine Antwort gibt das Buch des Tübinger Althistorikers Mischa Meier, das sich der Geschichte der Hunnen widmet. Von dem gängigen Bild der apokalyptischen Reiter bleibt allerdings nur wenig übrig.

Die Hunnen, die um 375 n. Chr. erstmals am Rand der spätantiken Welt erschienen, sind in Meiers Darstellung keine chaotischen Plünderer, sondern Akteure mit strategischem Kalkül. Taktiker mit politischer Weitsicht und einer bemerkenswerten Fähigkeit zur erfolgreichen Integration fremder Verbände.

Die multiethnische Konföderation kam ursprünglich aus der Tiefe des eurasischen Steppenraums und profitierte von dem dynamischen Wandel der Völkerwanderungszeit, den sie selbst durch massive Gewaltanwendung und rasche Expansion befeuerte. Aus kleinen Reiterverbänden entwickelte sich ein «struktureller Raubstaat» mit erfolgreichen Anführern.

Die «Geissel Gottes»

Sie betrieben eine aktive Aussenpolitik, handelten Verträge mit dem Römischen und dem Sassanidischen Reich aus und etablierten eine Herrschaft, die auf militärischer Stärke und diplomatischem Geschick beruhte. Zudem profitierten die Hunnen von allfälliger Kriegsbeute und regelmässigen Tributzahlungen, die ihre innere Ordnung stabilisierten und soziale Hierarchien konsolidierten.

Das Hunnenreich erreichte seinen Höhepunkt unter Attila, den die Zeitgenossen als «Geissel Gottes» beschrieben und den spätere Generationen in Etzel verwandelten. Seine Feldzüge führten ihn bis nach Gallien, wo sein Vorwärtsdrang auf den Katalaunischen Feldern im Juni 451 von dem römischen Heeresmeister Aëtius und verbündeten römisch-germanischen Truppen gestoppt wurde.

Die Suche danach, wo dieser geschichtsträchtige Ort genau zu lokalisieren sei, bleibt, wie ein Gelehrter einst spottete, ein «Lieblingshobby von Lokalhistorikern und pensionierten Obersten». Wahrscheinlich fand die Schlacht in der Nähe von Troyes statt. Zwei Jahre später war Attila tot: Der gefürchtete Herrscher starb wohl, von Wein berauscht, an einem Blutsturz in der Hochzeitsnacht.

Zentrale Akteure der spätantiken Welt

Sein Reich zerfiel rasch. Attilas Söhne konnten die Macht nicht behaupten, innere Spannungen traten offen zutage, und 454 wurden die Hunnen in der Schlacht am Nedao, einem Fluss in Pannonien, von einer Koalition ehemaliger Vasallen geschlagen. Binnen weniger Jahre verschwand das Hunnenreich von der politischen Landkarte Europas. Doch unterschiedliche Verbände, die in der Tradition der hunnischen Reiterkultur standen, traten in Zentralasien und Nordindien erfolgreich sein Erbe an.

Auch wenn es ruhigere Phasen in den Beziehungen der Hunnen sowohl zu den Römern als auch zu den Sassaniden gab, blieb der Krieg das zentrale Interaktionsmedium dieses Volks. Mischa Meier lässt es an Deutlichkeit nicht fehlen: «Jedes Buch über die Hunnen ist damit auch ein Buch über Krieg – mit all seinen Grausamkeiten.» Doch er setzt zugleich hinzu, dass sich ihre Geschichte keineswegs in Gewalt erschöpft habe.

Meier nutzt das Beispiel der Hunnen, um die politischen, ökonomischen und sozialen Charakteristika «eurasischer Steppenimperien» aufzuzeigen. Für ihn stehen die Hunnen für ein zukunftsfähiges «Modell gesellschaftlicher Ordnung, politischer Gemeinschaftsbildung und Interaktion mit sesshaften Reichen». Meier erkennt in den Hunnen nicht barbarische Randfiguren, sondern zentrale Akteure der spätantiken Welt.

Vorurteile

Das Buch, das durch intellektuelle Tiefe und narrative Klarheit überzeugt, ist zugleich ein Lehrstück über althistorische Quellenkritik: Die Hunnen selbst haben keine literarischen Quellen hinterlassen. Die erhaltenen Schilderungen der antiken Autoren, die Griechisch und Latein schrieben, sind nicht nur von zeitgenössischen Ängsten, sondern auch von traditionellen Vorurteilen geprägt, die die Römer und Griechen gegenüber «Barbaren» hegten.

Diese Stereotype haben das Bild der Hunnen bis in die Gegenwart beeinflusst. So, wie die Zeitgenossen, die als zivilisiert gelten wollten, sie beschrieben, blieb das Bild der Hunnen in Erinnerung. Und bis heute sind sie eine Projektionsfläche für kulturelle und politische Imaginationen – und stehen als exemplarisches Beispiel unmenschlicher Brutalität.

Diese Wahrnehmung, das zeigt Meier deutlich, verkürzt den historischen Befund auf fahrlässige Weise: Die hunnischen Reiterkrieger waren Vertreter einer für Rom fremden Kultur. Die Art, wie sie wahrgenommen wurden, ist geprägt von den komplexen Verflechtungen, die Europa mit dem Mittleren und Fernen Osten verbanden. Nicht in diesem Bild, sondern durch dieses hindurch muss man schauen, wenn man wissen will, wer die Hunnen waren.

Mischa Meier: Die Hunnen. Geschichte der geheimnisvollen Reiterkrieger. Verlag C. H. Beck, München 2025. 536 S., Fr. 49.90.

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