Seit 1947 hat kein Schweizer den EM-Titel gewonnen, dann reüssiert plötzlich ein Unbekannter aus Schaffhausen. Wer ist der sympathische Shootingstar?
Vor dem Wochenende kannte ihn kaum einer, am Dienstag warten sie alle auf ihn: Lukas Britschgi. Am Samstag gewann der Schaffhauser in Tallinn völlig überraschend den Europameistertitel im Eiskunstlaufen. Nun haben sich Familienangehörige, Freunde und ehemalige Eiskunstläuferinnen im Foyer des Hallenstadions eingefunden. Und selbst der Schaffhauser Stadtpräsident ist für den Empfang des 26-jährigen Shootingstars nach Zürich gekommen.
Die Veranstalter von «Art on Ice» haben den Anlass kurzfristig organisiert, um Britschgis Leistung zu würdigen. Doch bevor dieser die Bühne betritt, haben andere Eiskunstläuferinnen und -läufer ihren Kurzauftritt. So auch die 18-jährige Kimmy Repond, die an der EM als Favoritin auf den Titel galt, den Podestplatz jedoch verpasste und Vierte wurde.
Dann hupt es plötzlich im Foyer, und ein schwarzes Auto fährt vor. Das Publikum schwenkt Schweizer Fahnen, Britschgi steigt aus dem Wagen und betritt die Bühne. Die Moderatorin stellt ihm die Frage, die er in den vergangenen vier Tagen immer und immer wieder beantworten musste: «Wie fühlt sich der Europameistertitel an?» Britschgi sagt, er brauche wohl noch einen Moment, um die Bedeutung des Erreichten zu verstehen.
Die Moderatorin mustert ihn und fragt als Nächstes: «Wo ist denn deine Medaille?» Die habe er wohl im Koffer vergessen, sagt Britschgi. Das Publikum lacht. Danach beantwortet der Europameister weitere Fragen und posiert geduldig für Fotos mit den Fans. Er will es allen recht machen.
Britschgi gelingt eine fast perfekte Kür
Der erste Schweizer, der im Eiskunstlauf den Europameistertitel gewann, war Hans Gerschwiler. Das war 1947, vor einer halben Ewigkeit. Seither hat kein Schweizer mehr an einer EM eine so starke Kür gezeigt wie Britschgi am Samstag in Tallinn: Zu dramatischer Violinmusik performte er Dreifachaxel und komplizierte Vierfachsprünge – seine Darbietung war fast makellos. Damit überzeugte Britschgi die Punktrichter – sie gaben ihm 184,19 Punkte – und überraschte sogar sich selbst.
Denn sein Kurzprogramm am Donnerstag war alles andere als planmässig verlaufen. Britschgi unterliefen mehrere Fehler, er landete teilweise unsauber, stürzte beinahe. Das reichte nur für Zwischenrang 8. Am Dienstag sagt Britschgi dazu: «Nach dem Kurzprogramm war das Ziel, mein zweite Bronzemedaille zu gewinnen.» Aber Gold? Das hätte er niemals für möglich gehalten.
An der EM in Espoo, Finnland, hatte er 2023 schon einmal den dritten Platz belegt. Ein Jahr später klassierte er sich an der WM in Montreal im sechsten Rang. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er in diesem Jahr triumphieren würde.
Früher bewunderte er Sarah van Berkel, heute unterstützt sie ihn
Aufgewachsen ist Britschgi in Schaffhausen. Er begann schon in jungen Jahren mit dem Schlittschuhfahren, hatte aber lange Zeit nicht das Ziel, dereinst Profi zu werden. Eine, die Britschgi schon seit dessen Kindheit kennt, ist Sarah van Berkel, ehemals Meier. Sie war eine der bekanntesten Schweizer Eiskunstläuferinnen und wurde 2011 Europameisterin – Britschgi, damals ein kleiner Junge, bewunderte sie. Mittlerweile betreut van Berkel für den Eiskunstlauf-Event «Art on Ice» die Athleten und ist eine wertvolle Weggefährtin von Britschgi.
Van Berkel kümmert sich um Britschgis Kommunikation und entlastet den Athleten in organisatorischen Belangen. Auch wenn dieser, wie sie sagt, immer mitdenkt und gerne selbst Verantwortung übernimmt, um Studium und Spitzensport miteinander zu verbinden. In Britschgis Training ist van Berkel allerdings nicht involviert.
Sie sagt: «Als Lukas ein Kind war, habe ich nicht gedacht, dass er dereinst Europameister werden würde.» Er sei vielseitig interessiert gewesen und neben dem Eiskunstlaufen auch anderen Hobbys nachgegangen. Zudem habe Britschgi viel Zeit mit Freunden verbracht und nicht alles nur seiner sportlichen Leistung untergeordnet.
Erst relativ spät, vor fünf, sechs Jahren, habe Britschgi dann sein Potenzial angedeutet. Und plötzlich verbesserte er sich schnell: Er lernte innert kurzer Zeit schwierige Sprünge, wurde mutiger, traute sich immer mehr, sich vor Publikum selbstbewusst zu inszenieren. Van Berkel sagt, das sei keine Selbstverständlichkeit. Denn: «Auf dem Eis sieht man alle Emotionen. Man kann sich nicht verstecken.»
Nun will er ein Olympia-Diplom
Als van Berkel 2011 an der Heim-EM in Bern den Europameistertitel gewann, beendete sie danach ihre Karriere. Für Britschgi sei es nun ganz anders, sagt van Berkel. Denn seine Karriere fängt mit diesem Triumph erst gerade richtig an. Doch der Trubel in den vergangenen Tagen war auch anstrengend. Denn plötzlich erhielt Britschgi viel Aufmerksamkeit, mit dem Beantworten der Nachrichten kam er gar nicht mehr nach.
Wegen der Verpflichtungen bei «Art on Ice» bleibt ihm zudem kaum Zeit, um das Erlebte zu reflektieren und zur Ruhe zu kommen. Nach dem Empfang am Dienstagmittag unterschreibt er einige Autogrammkarten, wenig später steht er schon wieder auf dem Eis. Bereits am Donnerstag ist die erste Show.
Lukas Britschgis nächstes Ziel ist die Weltmeisterschaft, die Ende März in Boston stattfindet. Er sagt: «Das ist das Highlight der Saison und ein wichtiger Punkt für die Olympia-Qualifikation.» Nach EM-Gold will er nun ein olympisches Diplom. Vielleicht gibt es im Hallenstadion ja schon bald den nächsten Empfang.