Vor einem Jahr erschien der Sammelband «Oh Boy». Er sollte eine Debatte anstossen und löste einen Shitstorm aus. Rekonstruktion einer Kampagne.

In einer Mainacht vor zwei Jahren beging ein Mann in einem Berliner Klub einen sexuellen Übergriff. Ein knappes Jahr später, im Juli 2023, erschien unter dem Titel «Oh Boy. Männlichkeit*en heute» ein Buch mit 18 verschiedenen Texten. Einer davon thematisiert jene Mainacht im Jahr 2022 – gegen den ausdrücklichen und schriftlich festgehaltenen Willen des Opfers von damals.

«Da hat einer zweimal ein ‹Nein› übergangen – erst körperlich, später auch schriftlich. Wenn ich diese Geschichte so knapp erzählt bekommen hätte, würde ich denken: Wie dreist kann man sein?» Das sagt Valentin Moritz, der Autor des kritisierten Textes. Dann fügt er an: «Aber so einfach war es halt nicht.»

Der Fall «Oh Boy» erzählt von harten Fronten in der queer-feministischen Bubble. Aber auch von einer sich rasant ausbreitenden Fehlerkultur, in der man lieber hetzt als zuhört.

Aufwind für die Boys

Am Anfang ist alles gut. Pink leuchtet das Buch in den Regalen, geht oft über den Ladentisch und wird in vielen grossen deutschsprachigen Zeitungen besprochen. Weil bekannte Namen wie Kim de l’Horizon, dekoriert mit dem Schweizer und dem Deutschen Buchpreis, oder Daniel Schreiber zur Autorenschaft gehören. Weil es diese Art der Reflexion von Männern über Männlichkeit bisher nicht gab.

«Endlich», sagen viele Feministinnen, meinen das Buch im Allgemeinen und den Beitrag von Valentin Moritz im Speziellen. In einer Gesellschaft, die so viele Opfer von sexualisierter Gewalt, aber kaum Täter kennt, stellt Moritz sich hin und schreibt: «Ich will kein Täter sein, aber ich bin mindestens einmal einer geworden: Ich habe einen sexualisierten Übergriff begangen.»

Dass Täter Verantwortung übernehmen, ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Zwar gibt es für Moritz’ Text zwar stilistische Kritik, vor allem aber Applaus. Man will Interviews und Vorabdrucke, Lesungen natürlich und Diskussionsrunden auch.

Dann erscheint, mehrere Wochen vom Kanon-Verlag, bei dem das Buch erschien, bewusst ignoriert, von vielen anderen schlicht unbemerkt, ein Post auf Instagram: «Valentin, Mitherausgeber des Buchs, ist im Mai 2022 mir (gegenüber) sexuell übergriffig geworden. Dies thematisiert er in seiner Veröffentlichung im Buch ‹Oh Boy›. Ich habe ihm ausdrücklich nach dem Übergriff gesagt, dass ich nicht möchte, dass er seine gewaltvolle Aneignung meines Körpers als Gegenstand seines Textes im Buch verwendet.»

Wochenlang passiert – nichts. Dann kann dabei zugeschaut werden, wie der Shitstorm beginnt.

Ein Shitstorm bricht aus

Am 17. August 2023 postet @keineshowfuertaeter_berlin, ein Instagram-Profil mit mehreren tausend Followern, das stilistisch überarbeitete Statement der betroffenen Frau auf seinem Account.

«Keine Shows für Täter» ist online bestens vernetzt. Eine «feministische, antikapitalistische und antifaschistische Gruppe», die «öffentlichen Auftritten von Personen, denen sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird, etwas entgegensetzt». So steht es auf der Website. Dafür schreibt man Stellungnahmen, prangert in den sozialen Netzwerken mutmassliches Fehlverhalten von Einzelpersonen, Medien oder Veranstaltern an, als wäre es bereits bewiesen, und veranstaltet in Deutschland und selten auch der Schweiz Demonstrationen; zum Beispiel gegen den Schauspieler Luke Mockridge, dem sexuelle Nötigung vorgeworfen wurde.

Im Zuge der Kampagne gegen «Oh Boy» wird die Privatadresse der Eltern von Mitherausgeber Donat Blum publiziert und nicht nur gegen das Buch, sondern auch wiederholt gegen Einzelpersonen Stimmung gemacht.

Gleichzeitig treten weitere anonyme Profile auf, die «Oh Boy» ins Visier nehmen und sich gegenseitig mit Teilen und Liken verstärken. Die Reichweite wächst – und bringt den Kanon-Verlag dazu, endlich öffentlich auf den Vorwurf zu reagieren.

Das Verlags-Statement zeigt vor allem eines: Anstelle einer kritischen Debatte beginnt nun die «Rette sich, wer kann»-Phase: Die Autoren distanzieren sich von ihrer Anthologie, Veranstalter springen ab, geplante Interviews mit den Herausgebern verschwinden in der Schublade. Innerhalb weniger Tage zieht der Verlag das Buch zurück.

Rette sich, wer kann

Parallel zur öffentlichen Kampagne schreiben die anonymen Genossinnen der Betroffenen die Autoren der Anthologie gezielt per E-Mail und auf Instagram an: Man wolle ihnen die Chance geben, Stellung zu beziehen und ihre Unterstützung für die Betroffene auszudrücken. Implizit wird klar: Bist du nicht für uns, sind wir gegen dich.

«Ich fühlte mich eindeutig unter Druck gesetzt», sagt Mithu Sanyal, die einzige Frau in der Autorenschaft. «Wer sich neutral oder sogar kritisch äusserte, wurde als Mittäter hingestellt. Mir hat diese Entwicklung in dem Moment Angst gemacht», sagt der Comicautor Joris Bas Backer.

Noch heute klingt im Gespräch mit den meisten Autoren die Sorge an, erneut die Wut der anonymen Kollektive auf sich zu ziehen. Obwohl viele das Gesprächsangebot annehmen, möchte kaum jemand namentlich im Artikel genannt werden. Doch die Aussagen aller Autoren, die gesprächsbereit waren, stimmen überein. Erstens: Moritz’ Text hätte nicht erscheinen sollen. Zweitens: Das Kollektiv übte Druck auf sie aus, um eine Stellungnahme zugunsten des Opfers zu erzwingen. Später folgten auch finanzielle Forderungen. Mindestens einer Person wurde mit der Zerstörung der Karriere gedroht.

Unter dem rasant wachsenden Druck entscheidet eine Mehrheit der Autoren sich dazu, am 18. August ein gemeinsames Statement zu publizieren, in dem sie sich von «Oh Boy» distanzieren.

Wer das Statement nicht unterschrieben hat, wird am Internationalen Literaturfestival Berlin (ILB) an den Pranger gestellt: Vor grossem Publikum und mit Live-Übertragung im Internet verlesen Unterstützerinnen des Opfers eine schwarze Liste mit Autorennamen. Unter ihnen auch Mithu Sanyal. «Ich verstehe das Gefühl von Dringlichkeit, wenn man seine Grenzen verteidigen möchte. Aber Opfer zu sein, bedeutet nicht, dass man dafür selbst Grenzen überschreiten darf», sagt sie. «Die Welt» bezeichnet die Veranstaltung später als «neostalinistisches Tribunal».

Das erste «Nein»

Nicht nur die Autoren, auch Literaturhäuser und Lesungsorganisatoren werden anonym kontaktiert. Spätestens mit der ersten Veranstaltungsabsage aus Rostock zeigt die Online-Kampagne auch offline Wirkung.

Am 19. August erscheint auf RBB24 dann der erste kritische Artikel. Dort erzählt die betroffene Frau, die erst «Rabea» und später «Josy» genannt wird, dass sich die Berührung auf der Tanzfläche eines Berliner Klubs ereignet habe. «Ich habe versucht, seine Hand wegzuziehen, bin aber total auf Widerstand gestossen. Er hat erst von mir abgelassen, als er seine Befriedigung bekommen hat, oder was auch immer. Und dann ist er einfach gegangen, ohne ein Wort zu sagen», wird sie zitiert. Nur: Das stimmt so wohl nicht.

«Dieser Artikel hat mich fertiggemacht. Weil das, was sie mir darin vorwirft, mehr ist, als tatsächlich passiert ist», sagt Moritz. «Ich habe ihr nonverbales Nein sofort akzeptiert und meine Hand zurückgezogen. Es gab weder Zwang noch Gewalt.»

Ein Indiz dafür, dass stimmt, was Moritz sagt, findet sich ausgerechnet in diesem ersten Text von RBB24, der dem Shitstorm wichtigen Zunder lieferte: Nach Publikation des Artikels wird der strittige Teil «Er hat erst von mir abgelassen, als er seine Befriedigung bekommen hat» kommentarlos gelöscht. Auch der Ausdruck «Peiniger» steht heute nicht mehr im Text.

Wer den Artikel nachträglich bearbeitet hat und weshalb, kann sich auf der Redaktion auf Anfrage niemand erklären. Die Autorin arbeitet nicht mehr dort. Es ist allerdings die erste, nicht abgeschwächte Artikelversion, die als Basis für viele weitere Texte, Social-Media-Posts und als Quelle für einen Wikipedia-Eintrag zu Moritz dient.

Ein Opfer schlägt zurück

Dass er sich trotz allem im Fehler sieht, erklärt Moritz so: «Hätte ich gefragt, hätte sie Nein sagen können – und ich hätte es akzeptiert.» Aber er habe damals gehofft, ihre nonverbalen Zeichen richtig zu deuten. Vielleicht, weil er viel getrunken habe. «Und ich dachte wohl unbewusst, weil dem Ereignis eine kurze intime Beziehung vorausgegangen war, wäre es irgendwie okay», sagt Moritz. Dann schweigt er. Will mehr sagen, schweigt erneut und fügt schliesslich an: «So heisst der Grund für mein Handeln damals also wohl in erster Linie: Ignoranz.»

Was in dieser Nacht im Klub genau passiert ist, erzählt Moritz zwar, will aber nicht, dass es öffentlich wiederholt wird.

Etwas mehr als zwei Monate nach dem Vorfall im Klub beschreibt «Josy» in einem Brief an Moritz explizit heftige Gewaltphantasien, die sie ihm gegenüber habe. Dazu kommen Forderungen: Er soll das Preisgeld für sein erstes Buch – das mit «Oh Boy» nichts zu tun hat – an eine Organisation ihrer Wahl spenden. Und als Herausgeber und Autor bei «Oh Boy» aussteigen.

Moritz spendet statt des Preisgelds seinen Vorschuss für «Oh Boy» und will vom Projekt zurücktreten. Aber der Mitherausgeber Donat Blum und der Verleger Gunnar Cynybulk überzeugen ihn davon, weiterzumachen. Blum sagt damals wie heute: «Wenn einen etwas so sehr umtreibt, wie es damals bei Valentin der Fall war, dann gehört es literarisch aufgearbeitet. Das ist doch genau, was gute Literatur macht und was es bedeutet, Verantwortung für Fehler zu übernehmen: hin- statt wegschauen.»

Das zweite «Nein»

Auch Valentin Moritz glaubt, dass sich der Umgang von Tätern mit der eigenen Schuld – und entsprechend ihr Verhalten danach – nur verändert, wenn man sich Fehler eingestehen darf. Dafür brauche es einen Diskurs, Moritz wollte ihn eröffnen. Zudem glaubte er, mit dem Text «einer furchtbaren Situation zumindest ein Fünkchen Gutes abzuringen» und durch ausreichende Anonymisierung gleichzeitig «Josys» Wunsch zu entsprechen, die Tat «nicht zu benutzen». So, wie sie es in einer Nachricht an ihn formuliert hatte.

Tatsächlich schreibt Moritz in seinem Text «Ein glücklicher Mensch» zum Ereignis nur zwei Sätze: «Es war keine Vergewaltigung, bei weitem nicht. Aber eine Überschreitung körperlicher, nicht bloss verbaler Grenzen.» Auf den übrigen Zeilen umkreist er sich selbst, die eigene Schuld und Scham.

Die wenigsten von Moritz’ Kritikern dürften seinen Text allerdings tatsächlich gelesen haben. Man verlässt sich für das eigene Urteil auf vereinfachte Zusammenfassungen in den sozialen Netzwerken. Tatsächlich geht es sehr bald weniger um die Sache als vielmehr um den Kampf. Darum, die gemeinsame Wut nicht erkalten zu lassen.

Nachdem Moritz seinen Text aus dem E-Book und sich selbst vom Literaturbetrieb zurückgezogen hat, wird von «Josys» Genossinnen zum «BOYkott» des gesamten Buches aufgerufen. Als auch der Verlag reagiert und den Verkauf des Buches stoppt, könnte die Geschichte zu Ende sein. Stattdessen wird ein neues Ziel definiert: Donat Blum.

Ein neues Ziel

Blum, nonbinär und bisher Teil jener feministischen Gemeinschaft, in der die Wut auf «Oh Boy» am grössten ist, verhält sich nicht, wie man das dort erwartet hätte. Blum distanziert sich weder von Moritz noch vom Buch. Blum will auch nicht verschwinden, sondern sich wehren. Die eigene verlorene Ehre wiederherstellen. Dass das nicht gelingt, daran arbeiten einige Menschen aktiv.

Bis heute werden Veranstalter kontaktiert und aufgefordert, von «Oh Boy» unabhängige Events mit Blum abzusagen. Zum Beispiel das Zürcher Literaturmuseum Strauhof: Der Co-Leiter Rémi Jaccard sagt nach einem Telefonat mit «Josy», ein richtiges Gespräch habe er mit ihr nicht führen können, «da von ihrer Seite nur eine Absage akzeptabel war».

Blum sagt, viele Türen, die einst offen gestanden seien, seien nun zu. Der dadurch erwachsene finanzielle Schaden belaufe sich auf rund einen Drittel des eigenen kleinen Jahreseinkommens. Anfragen für Lesungen oder andere Engagements kamen seit dem Shitstorm keine mehr. Stellt Blum selber etwas auf die Beine, wird es angegriffen. Das tue finanziell weh, und auch persönlich – weil es oft die eigenen Leute seien, die diese Türen geschlossen hätten.

Verlag ohne Rückgrat

Bei «Oh Boy» wurden auf allen Seiten Fehler gemacht. Am wenigsten hätte man das vielleicht vom Verlag erwartet: Er nannte «Oh Boy» ein «Debattenbuch», als es aber darum ging, eine solche zu führen, zu ertragen, dass der Verlag dabei schlecht wegkam, entschied man sich sehr schnell dazu, das Buch und die dazugehörigen Menschen fallen zu lassen. Ein Gespräch für diesen Text lehnte Verleger Cynybulk schliesslich ab.

Dabei würde erst das Hinterfragen, was Literatur darf und wie Täter-Reflexion geht, eine Veränderung ermöglichen. Autorin Sanyal, die das Schlusswort zu «Oh Boy» geschrieben hat, sagt es so: «Auch wenn ich jemandem etwas antue, bleibt es meine Geschichte. Ich darf sie erzählen – aber ich muss nicht.»

Mehrere Wahrheiten können nebeneinander existieren, sich im Weg stehen – und dennoch ihre Berechtigung haben. Im Fall von «Oh Boy» ist das einerseits Moritz, der zu seinem Fehler stehen will. Andererseits «Josy», die verletzt wurde, deren Wut legitim ist und die die Kontrolle über ihre eigene Geschichte nicht verlieren will – das aber vielleicht längst hat. Nicht an Moritz oder den Kanon-Verlag, sondern an den Online-Mob, der sich ihre Vorwürfe auf die eigene Fahne geschrieben hat.

Eine bittere Bilanz

Die Kritiker im Internet hatten nie etwas zu befürchten: Juristisch gesehen sind anonyme Profile kein echtes Gegenüber. Wer weder einen Namen noch ein Gesicht hat, kann für Grenzüberschreitungen im Netz kaum belangt werden. Die zahlreichen Mitläufer verschwinden in der digitalen Masse.

Donat Blum kämpft noch immer gegen aktiven Widerstand für das Weiterbestehen im Literaturbetrieb.

«Josy» hat sich gegen ein Gespräch für diesen Artikel entschieden. «Meine Stimme wurde gehört. Andere haben mich verteidigt», schreibt sie in ihrer Absage. Diese Haltung ist legitim. Aufarbeitung sollte nie die alleinige Aufgabe der Opfer sein. Trotzdem ist sie das praktisch immer. Denn kaum ein Täter hat Interesse daran, sich selbst einen begangenen Übergriff überhaupt einzugestehen. Geschweige denn, ihn im grösseren Rahmen zu thematisieren und zu reflektieren.

Valentin Moritz, der genau das zu tun versuchte, hat sich aus dem Literaturbetrieb zurückgezogen. Er will nun in einer neuen Branche Fuss fassen. In welcher, will Moritz nicht sagen. «Ich möchte nicht, dass die Geschichte mir bis dorthin folgt.»

Kaum eine Geschichte kommt ohne Grautöne aus. Zumindest dann nicht, wenn man genauer hinschaut. «Oh Boy» hätte ein Debattenbuch sein sollen. Stattdessen wurde es zu einem Beispiel. Für eine Fehlerkultur, die weder Zeit zum Nachdenken noch Raum für Diskussionen vorsieht. Dafür, dass man sich besonders in den sozialen Netzwerken augenblicklich für eine – die richtige – Seite zu entscheiden hat; wer zögert, macht sich mitschuldig. Was richtig ist, entscheiden die, die am lautesten sind. Im Fall von «Oh Boy» ist das die queer-feministische Community, die für Toleranz, Sanftheit und Aufarbeitung einstehen will – und gleichzeitig Mitglieder, die von der Mehrheitsmeinung abweichen, bestraft.

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