Mittwoch, Oktober 2

Zweieinhalb Jahre leisteten die ukrainischen Streitkräfte erfolgreich Widerstand, doch dem jüngsten russischen Ansturm waren sie nicht mehr gewachsen. Mit dem Verlust der Stadt Wuhledar bricht die Front an einer wichtigen Scharnierstelle im Donbass zusammen.

Was sich seit dem September abgezeichnet hatte, ist am Dienstag eingetreten: Die Ukraine hat den Kampf um die festungsähnliche Kleinstadt Wuhledar in der südlichen Donbass-Region verloren. Ein offizielles Eingeständnis aus Kiew liegt zwar noch nicht vor, aber Augenzeugenberichte und Bilder von Aufklärungsdrohnen lassen keinen Zweifel an der Eroberung der Stadt durch russische Truppen. Von Moskauer Propagandisten veröffentlichte Aufnahmen zeigen, wie die russische Trikolore und das sowjetische Siegesbanner auf mehreren Hochhäusern der einst 14 000 Einwohner zählenden Bergwerkstadt flattern.

Laut einem ukrainischen Unteroffizier, der über das Netzwerk Telegram Berichte über das Frontgeschehen verbreitet, waren die Verteidiger zuletzt gezwungen, sich in kleinen Gruppen zu Fuss aus der Stadt zurückzuziehen – bedroht durch die allgegenwärtigen Kampfdrohnen und unter hohen Verlusten. Offenbar war es wegen der massenhaften Präsenz von russischen Kamikazedrohnen am Himmel über Wuhledar nicht mehr möglich, Schützenpanzer ins Kampfgebiet zu schicken und die Soldaten auf motorisierte Weise herauszuholen.

Verwundete zurückgelassen

Der Unteroffizier kritisierte den verspäteten Rückzug mit den Worten, dass man auf diese Weise die Verwundeten der Erschiessung durch den Feind habe überlassen müssen. Diese Sorge ist sehr berechtigt, denn das russische Militär begeht regelmässig Kriegsverbrechen an Gefangenen. Erst am Dienstag gelangte ein Video an die Öffentlichkeit, das allem Anschein nach zeigt, wie an einem anderen Frontabschnitt im Donbass sechzehn ukrainische Soldaten aufgereiht und erschossen wurden.

Schon vor dem Endkampf um Wuhledar galt diese Stadt als Sinnbild für die enormen Opfer und Zerstörungen, die Russlands Krieg fordert. Zweieinhalb Jahre lang hatte der Kreml versucht, die etwas erhöht gelegene Bastion einzunehmen, vier blutige Offensiven waren dafür notwendig.

Ein erstes Mal hatten die Ukrainer den russischen Vormarsch gleich nach der Invasion vom Februar 2022 gestoppt. Ein Frontalangriff im Herbst desselben Jahres erregte weltweites Aufsehen, da die Bilder des damaligen Gemetzels zeigten, wie russische Generäle scheinbar sinnlos lange Kolonnen von Militärfahrzeugen in ukrainische Minenfelder schickten. Die Felder um die Stadt verwandelten sich in einen eigentlichen Panzerfriedhof. Ein weiterer solcher Sturm im Januar 2023 endete mit demselben verheerenden Resultat. Der verantwortliche russische Offizier, Generaloberst Rustam Muradow, verlor daraufhin sein Kommando.

Wuhledar wurde so zum Symbol der ukrainischen Widerstandskraft. Dabei war dem Ort ursprünglich eine ganz andere Bestimmung zugedacht gewesen. Die Siedlung entstand erst vor sechzig Jahren, als typisch sowjetische Planstadt zur Förderung der Kohleindustrie. Der Name Wuhledar bedeutet «Kohle-Gabe» und verweist auf die beiden Kohlebergwerke, welche die sowjetischen Planwirtschafter in der Breschnew-Zeit in dieser dünn besiedelten Gegend errichten liessen. Entsprechend war das Bild der Kleinstadt von rechtwinkligen Strassen und vielstöckigen Wohnblöcken geprägt. Diese erwiesen sich im Krieg als gute Verteidigungsstellungen, und von der erhöhten Lage der Stadt aus konnte die ukrainische Artillerie die angreifenden Einheiten leicht unter Beschuss nehmen.

Obwohl Wuhledar schon vor einem Jahr einem Trümmerfeld glich, in dem kaum noch Zivilisten ausharrten, trat eine Vorentscheidung erst im Dezember 2023 ein. Damals konnten die Russen nach ähnlich verlustreichen Kämpfen die nordöstlich gelegene Kleinstadt Marjinka einnehmen. Die Lage von Wuhledar begann sich dadurch zu verschlechtern, weil die Gefahr nun nicht mehr allein von Süden drohte, sondern die Front auch im Osten näher rückte. Es dauerte weitere neun Monate, bis die Russen die Stadt von drei Seiten her eingeschlossen hatten und die Verteidiger zum Abzug zwingen konnten.

Symptom für ein grösseres Problem

Wuhledar hat als Ort keine grosse strategische Bedeutung, da hier keine wichtigen Verkehrsachsen verlaufen und für die Truppen Moskaus der Weg ins Landesinnere nun nicht automatisch offen ist. Aber die Niederlage ist nur schon deshalb ein schwerer Schlag, weil damit ein Symbol der ukrainischen Widerstandskraft verschwindet. Dass die Verteidiger nach zweieinhalb Jahren aufgeben mussten, passt ins Gesamtbild einer Armee, die in den vergangenen Monaten an vielen Frontabschnitten laufend Terrain räumen musste, unter sinkender Kampfstärke leidet und kein Rezept gegen die vernichtenden russischen Gleitbomben gefunden hat.

Abgesehen von der Symbolik Wuhledars fallen auch militärische Faktoren ins Gewicht: 18 Kilometer östlich der Stadt verläuft eine Eisenbahnlinie, die einst die wichtigste Verbindung zwischen der Metropole Donezk und den Städten der Südostukraine war. Wegen der Gefahr eines ukrainischen Beschusses aus Wuhledar konnten die Besetzer diese Route lange Zeit kaum nutzen. Nun gewinnen sie eine Versorgungsroute für die Truppen im besetzten Süd-Donbass und in der angrenzenden Provinz Saporischja hinzu.

Wuhledar befand sich ausserdem an einer Schlüsselstelle des Kampfgeschehens. Die Stadt bildete gleichsam das Scharnier zwischen der Ost- und der Südfront im Ukraine-Krieg; die beiden Verteidigungslinien trafen hier fast in einem 90-Grad-Winkel aufeinander. Nun wird Russland versuchen, diese Ausbuchtung zu beseitigen und den Frontverlauf zu begradigen. Militärbeobachter vermuten, dass dies der Hauptgrund für die jüngste Offensive war. Denn Gebietsgewinne im südlichen Donbass könnten die Voraussetzung dafür schaffen, die Hauptfront weiter nördlich bei Pokrowsk zum Bröckeln zu bringen.

Schwache Verteidigungslinien – hilft der notorische Schlamm?

Allerdings ist derzeit ungewiss, wie schnell die Russen ihren Erfolg in Wuhledar in einen weiteren Vormarsch ummünzen können. Bis Pokrowsk sind es 50 Kilometer, bis Kurachowe – einer weiteren Bastion der Ukrainer im Donbass – rund 20 Kilometer. Die Truppen Kiews sollen sich in das Dorf Bohojawlenka zurückgezogen haben, etwa 7 Kilometer nördlich von Wuhledar. Dazwischen liegt offenes Gelände, auf dem die russischen Einheiten den ukrainischen Gegenangriffen mit Kampfdrohnen und Artillerie recht schutzlos ausgesetzt wären.

Allerdings deuten Satellitenaufnahmen darauf hin, dass die Ukrainer in dieser Zone nur über schwach ausgebaute Verteidigungsstellungen verfügen. Zudem gilt die 72. Brigade, die seit 2022 die Hauptlast des Abwehrkampfes an diesem Frontabschnitt trug, als völlig erschöpft. Ihr Kommandant, Oberst Iwan Winnik, wurde am Wochenende aus unklaren Gründen von seinem Posten abberufen. Helfen könnte den Verteidigern, dass nach heftigen Regenfällen und dem Anbruch der berüchtigten Schlammsaison die Felder nördlich von Wuhledar bald unpassierbar für schwere Militärfahrzeuge werden. Dies gäbe einige Monate Aufschub bis zum nächsten grossen russischen Vorstoss.

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