Zürich will seine Einwohner für Katastrophenlagen wappnen. Die Stadt setzt dabei auch auf die Hilfe von Laien. Markus Meile, der Stabschef des Krisenkommandos, nimmt Stellung zum laufenden Projekt.
Herr Meile, die Stadt Zürich will die Bevölkerung vorbereiten für die nächste akute Krise. Die Menschen sollen flächendeckende Notlagen besser bewältigen können. Wie wollen Sie das erreichen?
Die meisten Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher sind gut informiert. Die meisten können sich ein Bild machen über Katastrophenlagen und wie man sich da verhalten sollte. Unser Projekt zielt vor allem auf Menschen, die wenig oder keinen Zugang haben zu diesen Informationen: ältere Personen, sozial schwache Gruppen, Fremdsprachige, die nicht gut integriert sind.
Die Mehrheit würde die ersten Tage also ganz gut allein überstehen?
Sie würde irgendwie durchkommen, ja. Viele Menschen sind sich jedoch nicht bewusst, dass staatliche Stellen nicht alles abdecken können – bei einem flächendeckenden Blackout beispielsweise, bei Überschwemmungen oder der nächsten Pandemie.
Die Corona-Pandemie ist vorbei, die schlimmsten Szenarien der Energiekrise im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind nicht eingetreten. Und jetzt sollen sich Zürcherinnen und Zürcher auf die nächste Krise vorbereiten, die es vielleicht nie geben wird?
Der Zeitpunkt ist günstig, ja. Die Welt ist nicht mehr die gleiche wie vor fünf Jahren. Das wollen wir ausnutzen. Es müssen nicht alle alles wissen, im Gegenteil. Wir sind überzeugt, dass sich sogenannte «local heroes» in der Bevölkerung hervortun – und sich auch um andere kümmern werden. In ihrem Wohnhaus, in ihrer Siedlung, in ihrem Quartier.
Haben Sie diese Personen schon gefunden?
Nein, noch nicht. Aber wir gehen davon aus, dass es solche Menschen gibt in der Stadt: gut vernetzt, überdurchschnittlich engagiert im Gemeinwesen, in der Nachbarschaftshilfe beispielsweise oder in den Gemeinschaftszentren. Mit diesen Personen wollen wir Workshops durchführen, damit sie zentrale Informationen weitergeben und in ihren kleinräumigen «Einzugsgebieten» neue Ideen entwickeln können zur gegenseitigen Unterstützung in Krisenlagen.
Bleiben wir beim Blackout-Szenario: Was heisst das konkret? Was sollen diese «local heroes» tun?
Das sollen sie selber herausfinden. Wer hat einen Campingkocher, mit dem sich auch die Nachbarn eine warme Mahlzeit zubereiten könnten? Wer einen Gasgrill? Wer kann ein Feuer machen auf dem nahen Grillplatz? Wer richtet eine Chatgruppe ein für die Hausgemeinschaft? Wer kann etwas abgeben von seinem Notvorrat zu Hause? Darüber kann man sich schon jetzt Gedanken machen.
Haben Sie einen Notvorrat zu Hause?
Ja. Notvorrat, Wasser, Campingausrüstung. Auch wenn ich in einer akuten Krisenlage ziemlich sicher nicht daheim, sondern im Kommandoraum der Stadtpolizei sein werde. In meinem Büro hat es auch ein Feldbett mit Wolldecke.
Was sollten Zürcherinnen und Zürcher heute tun, um sich auf den Tag X vorzubereiten?
Sie sollten sich die App Alert Swiss herunterladen, das ist das Allerwichtigste. Dort gibt es einen Notfallplan, der aufzeigt, was zu tun wäre: Angehörige erreichen; neun Liter Wasser pro Person sowie haltbare Lebensmittel für eine Woche im Haushalt haben, einen Treffpunkt abmachen für den Fall, dass das Telefon nicht mehr funktioniert, und so weiter.
Funktioniert die App auch, wenn das Mobilfunknetz tot ist bei einem Stromausfall?
Nein. Deshalb sollte man solch ein Szenario durchspielen, bevor es eintritt. Die Stadt würde dann über die 43 Notfalltreffpunkte in Zürich informieren und über die Stadtpolizei, die auf Strassen und Kreuzungen präsent wäre mit ihren Fahrzeugen.
All das gab es im Krisenwinter 2022/23 schon. Was ist neu am laufenden Projekt?
Wir wollen das Bewusstsein dafür schärfen, dass jeder eine Eigenverantwortung zu tragen hat. Und wir müssen kleiner denken. Wir können nicht davon ausgehen, dass 43 Notfalltreffpunkte für 400 000 Menschen ausreichen. Es braucht Eigeninitiative, Nachbarschaftshilfe, kleinräumiges Tun miteinander. Informieren wollen wir auch über die städtischen Beratungsstellen und über die offene Jugendarbeit. Ich glaube, dass sich da auch Personen finden, die selber genug resilient sind, um anderen in Notlagen beizustehen.
Kann man Krisenszenarien trainieren?
Ja, da bin ich überzeugt. Auch wenn es dann 0hnehin anders kommt, als man denkt. Szenarien vermitteln eine minimale Vorstellung, wie es ablaufen könnte. Das ist der Schlüssel zum Erfolg.
Sie sind Profi, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Krisenszenarien. Ihr Projekt zielt auf Laien, die anderen helfen sollen.
Auch Laien können das lernen. Wir wollen sie künftig mit einbeziehen in die Katastrophenübungen, die Stadtpolizei, Stadtverwaltung und VBZ schon jetzt durchführen. Wir wollen sie kennenlernen und uns regelmässig mit ihnen austauschen.
Kritiker könnten entgegnen, dass Ihr Vorhaben ein Papiertiger bleiben werde. Viel Lärm um wenig. Einen Blackout werde es nie geben.
Es ist kein Papiertiger. Wir werden 2025 mit diesen «local heroes» in Dialog treten. Die Kosten sind überschaubar, sie liegen im tiefen fünfstelligen Bereich. Ich glaube an das Potenzial der Zürcher Bevölkerung, sich selbst zu helfen. Je besser man sich vorbereitet, desto kleiner die Auswirkungen im Ernstfall, desto eher der Eindruck, dass man im Vorfeld gar nichts hätte machen müssen. Das ist paradox. Aber damit kann ich leben.