Der Bundesrat verbreitet bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union Zweckoptimismus. Aber für eine Einigung muss die Diplomatie bei der schwierigsten Frage eine Antwort finden.
Beim geplanten Paket der Verträge mit der EU dominieren die Gegner die Debatte. Fast täglich trat in den letzten Wochen einer der drei Gründer der Vereinigung Kompass Europa irgendwo auf. Diese warten nicht das Ende der Verhandlungen ab, sondern wehren sich aus grundsätzlichen Überlegungen gegen eine engere Anbindung an die Europäische Union. Die Schweiz müsste mit dem Vertragspaket wahrscheinlich etwa 8000 Gesetze übernehmen, mahnte der Kompass-Mitgründer Alfred Gantner bei einem Auftritt.
Der Bundesrat überliess das Feld den Gegnern. Von ihm war auch nichts zu hören, als Vertreter der EU einer einseitigen Schweizer Schutzklausel öffentlich eine Absage erteilten, mitten in den laufenden Verhandlungen.
Am Mittwoch hat sich der Bundesrat zurückgemeldet. Er hat im EU-Dossier die wohl letzte Zwischenbilanz vorgenommen – und verbreitet tapfer Zweckoptimismus. Die Verhandlungen seien bei den meisten Dossiers substanziell fortgeschritten, teilte er mit. Auch bei den Gesprächen zur innenpolitischen Abfederung mit den Sozialpartnern seien Fortschritte erzielt worden. Zudem stellte der Bundesrat klar, dass die Schweiz als Teil des Pakets rund 150 Rechtsakte der EU übernehmen müsste – und nicht Tausende.
Differenzen bestehen nach wie vor bei der Personenfreizügigkeit, dem Strom und den Kohäsionszahlungen der Schweiz. Der Bundesrat hat den Spielraum für die verbleibenden Streitpunkte definiert. Vor allem die hohe Zuwanderung überschattet die Verhandlungen. Die Schweiz strebt eine Schutzklausel an, um bei einer übermässigen Zuwanderung vorübergehend die Personenfreizügigkeit einzuschränken. Zwar gibt es bereits im bestehenden Abkommen eine Schutzklausel, die Bern Ende der neunziger Jahre aber schlecht verhandelt hat. Diese ist so schwammig formuliert, dass sie toter Buchstabe geblieben ist.
Die Hoffnung, dass die EU der Schweiz eine harte, einseitige Schutzklausel zugesteht, war wenig realistisch. Der freie Personenverkehr zählt zu den Grundprinzipien des Binnenmarkts. Doch die Gespräche sind nicht gelaufen. Bewegt sich die EU kein Jota, tendieren die Chancen für das neue Vertragspaket gegen null. Zwar bleibt die Schweiz auch künftig auf eine substanzielle Zahl von Zuwanderern angewiesen, zumal mit den Babyboomern zahlreiche Arbeitnehmer in Pension gehen.
Doch das Tempo des Bevölkerungswachstums sorgt über die SVP hinaus für Unmut. Ignoriert ihn die Politik, dient die direkte Demokratie früher oder später als Ventil. Mit der SVP-Initiative gegen die 10-Millionen-Schweiz steht eine schwierige Abstimmung bevor. Diese läuft auf eine Art Schweizer Brexit hinaus, da bei einer Kündigung der Personenfreizügigkeit auch die anderen Abkommen der Bilateralen I wegfallen würden. Damit würde sich das neue Vertragspaket erübrigen.
Die Kunst der Diplomatie ist es, einen Mittelweg zu finden zwischen der heutigen nutzlosen Klausel und einer harten Obergrenze, die der Schweiz freie Hand lässt. Das ist nicht unmöglich, wie der EWR zeigt, auf den die EU bei der Höhe der Kohäsionszahlungen gerne verweist. Das EWR-Abkommen umfasst eine generelle Schutzklausel, die bei wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Problemen befristete Abhilfemassnahmen erlaubt. Die Schweiz muss aber aufpassen, dass sie sich nicht auf einen schlechten Deal einlässt. Zugeständnisse beim Zugang von Studenten aus der EU an Schweizer Unis gegen eine wirkungslose Schutzklausel würden ihr mehr schaden als nützen.
Auch mit einer konkretisierten Klausel wird das Vertragspaket keinen einfachen Stand haben. Aber mit dieser und weiteren Verbesserungen steigen zumindest die Chancen, dass sich die alte Europa-Allianz von FDP, Mitte und SP mehrheitlich dahinter stellt.
Der Bundesrat wird jedoch offensiver darlegen müssen, warum eine Einigung im Interesse der Schweiz ist. Argumente gibt es. Ein brauchbarer Plan B, um die spezielle Beziehung zur EU zu regeln, ist bis heute nicht in Sicht. Die Europäische Union bleibt politisch und wirtschaftlich die wichtigste Partnerin der Schweiz in einer zusehends instabilen Welt. Mit Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten gilt dies erst recht.