IDF
Satellitenbilder zeigen, was die israelische Armee im Gazastreifen errichtet hat. Die neu gebaute Infrastruktur gibt Hinweise darauf, wie es mit dem Küstengebiet nach dem Ende des Krieges weitergehen könnte.
Nach mehr als einem Jahr des Krieges hat sich das Erscheinungsbild des Gazastreifens grundlegend verändert. Das hat vor allem damit zu tun, dass zwei Drittel der Gebäude im Kampf gegen die Hamas zerstört oder beschädigt wurden – aber nicht nur. In den vergangenen Monaten sind auch diverse neue Strukturen entstanden.
So haben Israels Streitkräfte (IDF) Dutzende Zufahrtswege für ihre Panzer und Lastwagen geschaffen, die sich wie helle Narben durch den Gazastreifen ziehen und sich immer weiter verästeln. An manchen Stellen haben die israelischen Truppen gar Strassen geteert und diese mit Markierungen und Verkehrsschildern versehen. Und nicht zuletzt wurden in den vergangenen Monaten mindestens zwei Militärbasen gebaut.
Aus den Aussagen von Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu geht nicht klar hervor, was Israel nach dem Krieg mit dem Küstengebiet plant. Er hat zwar gelobt, den Gazastreifen nicht wieder zu besetzen – gleichzeitig betont er, Israel müsse die «Sicherheitskontrolle» über den Gazastreifen behalten. Die Auswertung von Satellitenbildern legt jedoch den Schluss nahe, dass die israelische Armee durch die Errichtung von Infrastruktur die Voraussetzungen für eine mittel- bis langfristige militärische Präsenz im Gazastreifen geschaffen hat – zu diesem Schluss kommen auch mehrere Experten, die mit der NZZ gesprochen haben.
Was ist seit Kriegsbeginn entstanden?
Nicht alle dieser Einrichtungen haben einen langfristigen Zweck. Die Zufahrtsstrassen etwa seien nur von taktischem, nicht aber von strategischem Wert, sagt der Sicherheitsexperte Andreas Krieg vom King’s College in London. «Die Armee muss diese nicht dauerhaft kontrollieren.» Auch in Bezug auf den Philadelphi-Korridor vermutet Krieg, dass Israels Präsenz nicht in Stein gemeisselt ist. «Aufgrund der internationalen Dimension von Philadelphi, wo Interessen Israels, Ägyptens und der USA zusammenkommen, dürfte das ein in Verhandlungen lösbares Problem sein.»
Anders sieht das laut Krieg beim Netzarim-Korridor aus: «Was da gebaut wurde, ist nicht für die nächsten paar Monate gedacht. Das ist mindestens eine mittelfristige Lösung für die nächsten paar Jahre, wenn nicht sogar eine langfristige.» Nimrod Goren, der Präsident der israelischen Denkfabrik Mitvim, sieht das ähnlich: «Wenn Israel sich in absehbarer Zeit aus dem Gazastreifen zurückziehen wollte, hätte es diesen Korridor nicht auf diese Weise ausgebaut und konsolidiert.»
Die Handlungen und die Ideologie der israelischen Regierung deuteten darauf hin, dass sie durchaus eine fortgesetzte Präsenz im Gazastreifen in Betracht ziehe, sagt Goren. «Dafür braucht man Infrastruktur – und in Netzarim wird diese gebaut.»
Der Netzarim-Korridor als strategisches Element
Beim Netzarim-Korridor scheint es sich also um ein Schlüsselelement der israelischen Kriegsstrategie zu handeln. Wie funktioniert dieser Korridor? Was wurde darin gebaut, was wurde zerstört? Die Analyse eines aktuellen Satellitenbilds gibt Aufschluss:
Das Herzstück des Netzarim-Korridors ist die Strasse, die von der Grenze bis an die Küste führt. Teilweise wurden entlang der Strasse Erdwälle aufgeschüttet, um sie zu schützen. Rechts und links der Strasse ist derweil Niemandsland entstanden – ein grosser Teil der Gebäude in einer fünf bis sechs Kilometer breiten Zone wurde in den vergangenen Monaten systematisch zerstört. Videos in den sozialen Netzwerken zeigen, wie Häuser in der Nähe des Korridors gesprengt werden:
Der Ort des Korridors wurde wohl sehr bewusst gewählt: Er befindet sich in einer Senke im Gazastreifen, wo früher vor allem Landwirtschaft betrieben wurde. Das Gebiet lässt sich leicht überblicken – potenzielle Angreifer können also früh erkannt werden. Laut Nimrod Goren entstand der Netzarim-Korridor zunächst aus taktischen Überlegungen, um Truppen schnell und effizient im Gazastreifen einzusetzen. So dauert die Fahrt von der Grenze bis an die Küste nur rund sieben Minuten.
«Doch sehr schnell wurde der Korridor zu einem strategischen Element», sagt Goren. «Er dient dazu, das Gebiet zu teilen, die Bewegung der palästinensischen Bevölkerung zu kontrollieren, kontinuierlich gegen Hamas-Infrastruktur vorzugehen und dazu, zu zeigen, dass Israel so bald nicht weggehen wird.»
Militärbasen mit Beobachtungsposten und Unterkünften
Der Netzarim-Korridor ist nicht zuletzt ein Pfand in den Verhandlungen um einen Waffenstillstand. Die Bewegungsfreiheit im Gazastreifen ist eine zentrale Forderung der Hamas – doch der Netzarim-Korridor verhindert dies bislang. Er quert denn auch jene zwei Strassen, die Süd- und Nordgaza miteinander verbinden: die Salah-al-Din-Strasse und die Al-Rashid-Strasse.
Es ist wohl kein Zufall, dass die IDF just an diesen beiden Kreuzungen zwei Militärbasen errichtet haben. Auf Satellitenbildern lassen sich parallele Korridore erkennen, die von den Strassen zu einem umzäunten Komplex mit Gebäuden führen. Es scheint sich um eine Art Checkpoint zu handeln, wo Palästinenser, die den Korridor durchqueren wollen, mutmasslich kontrolliert und befragt werden können.
Die Bilder aus dem All zeigen zudem, dass auf den Basen auch hohe Funkantennen errichtet, Container und Fahrzeuge abgestellt wurden. Geschützt werden sie von hohen Erdwällen, auf denen Beobachtungsposten stationiert sind. Laut israelischen Journalisten, die die Basen besucht haben, gibt es inzwischen auch Unterkünfte, Duschen, Essräume und Schutzräume aus Beton.
Laut dem Sicherheitsexperten Andreas Krieg besteht der Zweck dieser «vorgeschobenen Operationsbasen» darin, nördlich und südlich des Korridors kleinere taktische Operationen mit Spezialkräften und gepanzerten Fahrzeugen durchführen zu können. Dennoch vermutet Krieg, dass der Netzarim-Korridor die Bewegungsfreiheit der Hamas nicht komplett unterbunden hat: «Die Tatsache, dass sich die Hamas in Nordgaza mehrfach neu aufstellen konnte, lässt sich eigentlich nur dadurch erklären, dass es unter dem Korridor noch funktionierende Tunnel gibt.»
Erster Schritt zur Wiederbesiedlung des Gazastreifens?
Neben den beiden neu gebauten Operationsbasen haben die IDF auch in zwei bestehenden Gebäuden entlang des Netzarim-Korridors Stützpunkte eingerichtet. Einer davon befindet sich in einer ehemaligen Schule in der Nähe der Grenze, der andere im türkischen Spital. Satellitenbilder zeigen, dass auch dort Erdwälle aufgeschüttet wurden. Vor dem Spitalgebäude sind zudem mehrere gepanzerte Fahrzeuge parkiert.
Wofür das Spital genau genutzt wird, ist unklar. Für manche Israeli hat der Ort allerdings eine besondere Bedeutung. So war das türkische Spital nach dem Rückzug Israels aus Gaza im Jahr 2005 auf den Ruinen der jüdischen Siedlung Netzarim errichtet worden.
So glauben manche Beobachter, dass die Errichtung des Netzarim-Korridors – der nach der Siedlung benannt wurde – der erste Schritt zur israelischen Wiederbesiedlung des Gazastreifens sein könnte. Laut dem Experten Nimrod Goren lehnt dies zwar eine Mehrheit der Israeli ab. «Aber diese Ideen haben in der israelischen Regierung Unterstützer», sagt er. Tatsächlich fordern einige Minister öffentlich die «freiwillige Emigration» der Bevölkerung von Gaza und die Errichtung neuer Siedlungen.
Zudem befürchten einige, dass der Netzarim-Korridor Israel dazu dient, den sogenannten «Plan der Generäle» umzusetzen, der eine Entvölkerung von ganz Nordgaza beinhalten würde. Im Rahmen einer Offensive Israels, die im Oktober startete, wurden bereits mehr als 50 000 Palästinenser aus ihren Wohnorten nördlich von Gaza-Stadt vertrieben. Laut der britischen Zeitung «Guardian» hatte ein IDF-General Anfang November gegenüber israelischen Journalisten gesagt, diese dürften nicht an ihre Wohnorte zurückkehren. Kurz darauf dementierten die IDF – diese Aussagen entsprächen nicht ihren Zielen und Werten.
Andreas Krieg vom King’s College sagt, mit dem Korridor seien Tatsachen geschaffen worden, die sich so schnell nicht wieder rückgängig machen liessen. «Es würde mich nicht wundern, wenn das in den nächsten Jahren noch weiter ausgebaut würde.»
Derzeit lässt sich freilich nur darüber spekulieren, wie es dereinst mit dem Gazastreifen weitergeht und ob sich Israel nicht doch wieder zurückzieht. Klar scheint allerdings, dass die israelische Armee zumindest mit dem Netzarim-Korridor die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, um theoretisch auch in den nächsten Jahren militärische Operationen durchführen zu können – was einer Teilbesetzung des Gazastreifens gleichkäme.