Mittwoch, Oktober 30

In diesen Tagen beginnen die Apfel- und Birnbäume zu blühen. Das Naturschauspiel lockt Instagram-Fotografinnen und Spaziergänger an. Für die Obstbauern ist es der Anfang einer Zitterpartie.

Kennen Sie Egnach? Falls nicht, sollten Sie das ändern. Denn die Geschichte von Egnach ist auch die des Schweizer Obstanbaus, der Apfel- und der Birnenblüten, der Hoch- und Niederstämmer. Und die ihrer Obstbauern, etwa jene von Stefan Anderes. Und es ist die Geschichte des Thurgaus. Auf dem acht Kilometer weiten «Bireweg» vom Bahnhof Häggenschwil-Widen nach Egnach lässt sie sich erwandern.

Bekanntlich geht der Thurgau bisweilen vergessen, oder er wird belächelt. Sei es wegen seiner angeblichen Provinzialität oder wegen des Dialekts der Bevölkerung. Dabei gehört die Landschaft von Mostindien mit ihrer Weite zum Schönsten, was die Schweiz zu bieten hat.

Mit über 210 000 Hochstammbäumen und mehr als 1600 Hektaren Kulturen ist der Thurgau der grösste Obstbaukanton des Landes. Allein die Gemeinde Egnach mit knapp 4900 Einwohnern hat so viele Obstbaukulturen wie der Kanton Luzern.

Malerisch liegt diese Landschaft da, wenn alle Bäume blühen. Die Zeit, während deren eine Blütenwanderung möglich ist, beginnt in den nächsten Tagen und dauert bis Ende Mai.

Doch was bedeutet das Blütenmeer für Egnach? Eine Erkundung in sieben Stationen.

Bevor die Bäume blühen, entstehen grüne Knospen. Aus diesen wächst ein roter Kopf, der sich zu einem «Ballon» vergrössert, bis sich die Blüte öffnet und die Bestäubung durch Bienen, Wildbienen und andere Insekten beginnt. Ist es kühl, verlängert sich die Blütezeit. Ist es warm, ist sie nach zwei Wochen vorüber. Es ist ein flüchtiger Zauber, der den Oberthurgau in ein weiss-rosa Meer verwandelt.

Darauf blicken «Bireweg»-Wanderer, die am Bahnhof Häggenschwil-Winden aus der Regionalbahn Thurbo aussteigen. Den Bodensee haben sie stets im Auge, wenn sie den «Bireweg» rückwärts gehen, will heissen, sie starten am Ende der Blustwanderung. Zehn Schautafeln informieren über die Geschichte von Weilern und Flurnamen wie Ladreute, Kuglersgreut, Neukirch, Gristenbühl, Peierslehn oder Buch, die zu Egnach gehören.

Der Name «Bireweg» rührt daher, dass die Egnacher früher vor allem Birnbäume angepflanzt haben. Das Gemeindewappen zieren denn auch vier rote Birnen. 1859 standen auf zwei Birnbäume ein Apfelbaum. 1929 kehrte sich dieses Verhältnis um. In den 1970er Jahren waren es 73 Prozent Apfelbäume. Der Anteil ist bis heute angestiegen.

Die Äpfel galten einst als bitter und kaum geniessbar, die Birne jedoch erfreute sich grosser Beliebtheit. Gepresst ergab sie einen süssen Saft, vergoren einen haltbaren, alkoholischen Most. Auch deshalb wird der Kanton, dessen Bevölkerung allzu viel Most trank, bis heute augenzwinkernd Mostindien genannt.

Und was ist der Unterschied zwischen einer Birnen- und einer Apfelblüte heute? Stefan Anderes, Obstbauer aus dem Egnacher Ortsteil Buch, erklärt es. Der 41-Jährige lebt mit seiner Familie im Bauernhaus, das einst seine Urgrosseltern errichtet haben. Der jugendlich wirkende Mann steht auf seiner Niederstammplantage und antwortet schmunzelnd: «Birnen stinken, Äpfel duften.»

Ob tatsächlich nur Apfelblüten fein duften, sollen die Spaziergänger selber herausfinden, wenn sie ostwärts in Richtung Balger Weiher gehen, vorbei an einem Biohof mit Hochstämmern. Immer wieder sehen sie Insektenhotels. So locken die Bäuerinnen und Bauern Wildbienen für die Bestäubung an. Bald fällt die hohe Dichte an schwarzen Netzen auf, die über den Tiefstammplantagen angebracht sind. Noch sind diese Netze eingezogen. Nach der Blüte würden sie ausgebreitet, als Hagel-, aber auch Hitze- und Sonnenschutz, sagt Stefan Anderes.

Gehen die Wanderer weiter, vorbei an gut erhaltenen Riegel- und Schindelhäusern, gelangen sie zum Weiler Ladreute, wo im 19. Jahrhundert das Armenhaus stand, wie es auf der Info-Tafel heisst.

Bevor es ein Armenhaus gab, stahlen Bettlerinnen und Bettler Obst. Sie wurden aus der Gemeinde gejagt, nur um im Nachbardorf dasselbe zu tun. Die armen Bürger durften in ihrer Heimatgemeinde das am Boden liegende Obst auflesen. Die Bäume schütteln, das war ihnen jedoch untersagt.

Nicht nur im 19. Jahrhundert – auch heute werde bisweilen Obst gestohlen, bestätigt Stefan Anderes. Doch zum Glück selten.

Noch über Armenhäuser redend, fallen den Spaziergängern auf dem Weg Richtung Kuglersgreut Blumentöpfe an den Ästen der Birnen-Niederstämmer auf. Diese dienen nicht etwa der Dekoration. In ihrem Inneren befindet sich Holzwolle, die den Ohrwurm anzieht. So erklärt es Stefan Anderes. Der Ohrwurm ist ein natürlicher Feind des Birnblattsaugers, dessen Ausscheidungen Blätter und Früchte verschmutzen, was einen Pilz anlockt. Es entstehen schwarze Flecken, welche die Früchte unverkäuflich machen.

Am Wegesrand lädt ein Waldstück mit Bank zum Picknick ein. Nach der Pause folgen die Wanderer dem Pfad in Richtung Neukirch und von dort auf den Aussichtspunkt Gristenbühl. Hier steht das «Schloss zur frohen Aussicht», auf dem im 19. Jahrhundert der Pomologe Gustav Pfau-Schellenberg forschte, ein Pionier des Schweizer Obstbaus.

Der Blick schweift von der Anhöhe über den Bodensee weiter zum Alpsteinmassiv mit dem Säntis. Entlang von gelb blühenden Rapsfeldern geht es hinab nach Peierslehn, wo die Spaziergänger über ein riesiges Blütenmeer schauen.

Diese modernen Obstanlagen können mit Erntemaschinen durchfahren werden. Sie erinnern in keiner Weise mehr an die früheren Wälder des Feldobstbaus von 1950, als die Hochstammbäume für die Vermostung angelegt waren. Diese Art der Mostbewirtschaftung rentierte bald nicht mehr.

Weil die meisten Äpfel den Anforderungen des Tafelobsts nicht genügten und Überschüsse zu Schnaps gebrannt wurden – was dem Volkswohl schadete –, fand ein Umdenken statt. Ab 1950 wurden über eine halbe Million Bäume gefällt, um Platz zu schaffen für moderne Obstanlagen. Für Kritiker kamen diese Rodungen einem «Baummord» gleich.

Obwohl es nicht mehr so viele Hochstammbäume gibt wie einst, zieht die Birnen- und Apfelblüte Touristen in den Oberthurgau. Seit es als Trend gilt, das japanische Kirschblütenfest auch hierzulande und in den sozialen Netzwerken zu zelebrieren, sind es mehr geworden. Apfel- und Birnbäume gelten als hip. Was für Instagram-Fotografinnen eine schöne Zeit ist, bedeutet für die Produzenten von Tafelfrüchten manchmal eine Zitterpartie.

Das bestätigt Stefan Anderes auf dem Rundgang durch seine Obstplantage im Egnacher Ortsteil Buch. «Wenn alles in Blüte steht und es Frost gibt, dann können wir hier nichts machen», bedauert er.

Die Unmengen Wasser, die man zum Beregnen des Frostes brauchte, gebe es hier nicht, erklärt Stefan Anderes. Dies, obwohl der Bodensee so nah ist. Doch das Wasser in der Bucht sei zu schlammig.

Frostereignisse geschähen aber nur selten, biete der Bodensee doch meistens gute klimatische Bedingungen, um die Umgebung im Frühjahr lange kühl zu halten. Somit erfolge der Austrieb der Blüten später, und das Risiko für Frost sei geringer.

Neben dem Frost, der während der Blust für Zitterpartien sorgt, gibt es auch eine Pflanzenkrankheit, die nur in dieser Zeit die Äpfel- und Birnbäume bedroht: der Feuerbrand. Über die Bestäubung breitet sich das Bakterium von der Blüte in den Ast und schliesslich bis zum Stamm aus. Blüten und Blätter verfärben sich schwarz, daher rührt der Begriff Feuerbrand.

Weitere Krankheiten beschäftigen Stefan Anderes. Während er kleine Äste mit dunkelbraunen Stellen von den Niederstämmern abreisst, erklärt er: Darauf sei Obstbaumkrebs, ein Pilz, der bei einigen Apfelsorten auftreten könne.

Doch jene Pilzkrankheit, die am meisten Probleme bereitet, ist der Apfelschorf. Der Pilz überwintere auf den Blättern, sagt Anderes. Der Obstbauer baut daher resistente Sorten wie Magic Star an und achtet auf einen Boden mit vielen Regenwürmern. Diese frässen die heruntergefallenen, vom Schorf befallenen Blätter.

Und was ist mit dem Schilf zwischen den Ästen der Niederstämmer in der Plantage von Anderes? Dazu gibt es eine Geschichte:

Diese ist auf einem Schild an der Romanshornerstrasse zu erfahren. In dem auffallenden Riegelhaus wohnt heute ein Nachfahre von Ulrich Schönholzer. Dieses Egnacher Original war ein Scharfschütze, der im 19. Jahrhundert ein Loch durch die goldene Kugel auf der Kirchturmspitze in Neukirch geschossen haben soll, er war quasi ein Thurgauer Tell.

Er kümmerte sich als Seeanstösser auch um das Ufer, das bei Ostwind abgetragen wurde. 1860 begann er, Schilf zu pflanzen. Der Erfolg der Massnahme gab ihm recht, bald erhielt er vom Staat neue Pflanzaufträge.

Dieses Schilf wiederum nutzt heute Stefan Anderes. Mit seinem Vater hat er etwas davon abgeschnitten und daraus kleine Wildbienenhotels für die Plantagen gebaut. So möchten sie Insekten für die Bestäubung anziehen. «Wir probieren immer wieder etwas aus», sagt er.

Die Blüten der Birnbäume sind weiss, jene der Apfelbäume tendieren ins Rosarote. Stefan Anderes sagt: «Birnen stinken, Äpfel duften.»

Und dann treffen die Wanderer am Ziel des «Birewegs» ein, früher war es auch das Ziel des Obstes: die historischen Gebäude der alten Mosterei Egnach, direkt neben dem Bahnhof. Im Sommer sollen hinter der einstigen Mosterei 150 Wohnungen entstehen.

Egnach verändert sich, die Blütezeit bleibt, auch wenn sie wegen des Klimawandels zeitiger beginnt und die Ernte gleichfalls früher startet, wie Stefan Anderes erklärt.

Im Sommer und im Herbst erntet der Obstbauer mit seiner Familie, Hausfrauen und Erntehelfern aus Tschechien 350 Tonnen Äpfel und Birnen von den 25 000 Bäumen. Das Tafelobst geht an die Firma Tobi Seeobst in Egnach und von dort zu den Grossverteilern.

Der Anbau sei lokal, Food-Waste gebe es kaum, weil überflüssige Äpfel zu Most, Mus oder Joghurt verarbeitet würden. Seine drei Kinder seien zwar noch nicht so sehr interessiert, wie er es sich wünsche. Trotzdem hofft Stefan Anderes, dass der Apfel- und Birnenanbau Zukunft hat.


Informativ: «Bireweg» in Egnach

Der «Bireweg» ist acht Kilometer lang, und man sollte zwei bis drei Stunden einplanen. Der offizielle Start befindet sich am Bahnhof Egnach. Will man während der leichten Wanderung aber auf den Bodensee blicken, statt ihn im Rücken zu haben, lohnt es sich, in Winden anzufangen. Der ausgeschilderte Pfad führt über Wiesen, vorbei an Bächen, an zig Obstplantagen, an Weilern sowie historischen Riegelhäusern. Läuft man vom Bahnhof Winden los, beginnt man am Ende der Schautafeln, bei der Nummer 10. Man erfährt geschichtliche Hintergründe zur weitläufigen Gemeinde Egnach und über Obstbau. Für die geografische Orientierung sehr nützlich sind die Apps CubeTrail und Outdooractive, erstere hält zusätzliche Informationen bereit. Eine Rast mit selbst mitgebrachtem Proviant lässt sich beim Waldstück zwischen den Weilern Ladreut und Kuglersgreut einlegen. Oder im einfachen Beizli am Weg, der Wirtschaft zum Klösterli, die am Wochenende ab 10 Uhr geöffnet ist. Ausklingen lässt sich der Tag am Bodensee, im Restaurant Seehuus. Auskunft über den Stand der Blüte erteilt Madame Bluescht via Blusttelefon (071 531 01 30) oder thurgau-bodensee.ch.

Aussichtsreich: Rundweg Klingenzell–Hochwacht

Diese Thurgauer Blütenwanderung ist mit zwei Stunden eher kurz, dafür aussichtsreich. Die Tour beginnt beim Bahnhof Mammern und ist mit grünen Wegweisern ausgeschildert. Zunächst geht man westwärts, durch weitläufige Obstplantagen. Dann folgt ein steiler Aufstieg über den Haldenhof nach Klingenzell. Der Wallfahrtsort ist mit der Kirche Sieben Schmerzen Mariä, dem Restaurant Klingenzellerhof und dem Blick über den Untersee ein beliebtes Ausflugsziel. Der Weg führt weiter zur Hochwacht, wo Ruhebänke und eine Feuerstelle zur Rast einladen. Weiter, bei der Eggmühle, zweigt die Routenvariante B ab und führt durch den Wald hinunter zur Klingenegg und schliesslich zum Ausgangspunkt nach Mammern.

Wie im Kirschgarten: Chriesiwanderung Goldau–Zug

Die fünfstündige Kirschblütenwanderung sollte man in Goldau starten. Zwischen Arth und Goldau geht es durch den Arther Kirschgarten. In Oberwil spaziert man an Hoch- und Niederstammbäumen vorbei, von denen die ersten schon blühen, in Weiss. Dort lohnt sich eine Einkehr im Hofladen Bröchli. Beizen gibt es unterwegs zwar keine, dafür schöne Rastplätze. Nach Walchwil, etwa der Hälfte der Wanderung, ergibt eine Pause Sinn: Auf den Feldern blickt man auf den Zugersee und die Rigi. Am Montag, 26. Juni, findet der traditionelle Chriesisturm statt, ein Rennen mit Leitern durch die Zuger Altstadt. Das Blütentelefon erteilt Auskunft über den Stand der Blüte.

Ursprünglich: Chirsiweg St. Pantaleon–Nuglar

Die Wanderung durch die Kirsch-, Apfel- und Birnbaumlandschaft der Dörfer St. Pantaleon und Nuglar dauert ohne Pausen eine bis zwei Stunden. Zum Ausgangspunkt Degenmatt in St. Pantaleon gelangt man ab Liestal mit dem Bus der Linie 73, dieser fährt im Stundentakt. Marcel Schenker vom Forum Schwarzbubenland sagt, dass die weissen Kirschbäume bereits blühen. Gleiches wird bald mit den Apfel- und Birnhochstämmern geschehen. Auf dem Rundweg in jener Ecke des Kantons Solothurn, die an das Baselbiet grenzt, gibt es zwei Rastplätze und originelle Beizen. Als Ausklang empfiehlt Schenker das Restaurant Alte Brennerei in Nuglar, wo auch das Schwarzbuebe-Bier produziert wird. Hofläden, die Likör oder Glace aus Kirschen anbieten, sind ebenfalls zu empfehlen. Baselland-Tourismus bietet einen Bluescht-Liveticker an.

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