Sonntag, November 24

Der amerikanische Flugzeugbauer fällt bei über einem Drittel der behördlichen Überprüfungen zum Bau der Boeing 737 Max durch. Gleichzeitig stirbt ein britischer Boeing-Whistleblower. Ein Zufall?

Bei Boeing, dem zweitgrössten Flugzeughersteller der Welt, der nach dem Zwischenfall mit einer Boeing 737 Max 9 Anfang Januar unter massiver Kritik steht, sind die Qualitätsprobleme noch viel verheerender als bisher angenommen. Das enthüllt jetzt die «New York Times».

Die US-Luftfahrtbehörde FAA hatte nach dem Beinahe-Unfall, bei dem sich im Flug eine deaktivierte Tür aus dem Rumpf gelöst hatte, eine sechswöchige Überprüfung in der 737-Max-Produktion im Werk Renton bei Seattle und in Wichita im US-Gliedstaat Kansas beim wichtigsten Zulieferer Spirit AeroSystems gestartet.

In der vergangenen Woche verkündete die Behörde, man habe dabei einige Fälle entdeckt, in denen Vorgaben der Qualitätskontrolle nicht eingehalten worden seien, nannte aber keine Details. Diese veröffentlicht jetzt die «New York Times», und sie sind beunruhigend für das fliegende Publikum, die Airline-Kunden des Flugzeugherstellers und Boeing selbst.

Von den insgesamt durchgeführten 89 Audits sei der Hersteller in 33 Fällen durchgefallen, bestand also mehr als ein Drittel der Tests nicht. In 97 Einzelaspekten seien Verstösse gegen geltende Qualitätsstandards festgestellt worden. Bei Spirit Aero Systems, die Boeing fertig vormontierte Flugzeugrümpfe für die 737 Max zuliefert, führte die FAA 13 Audits durch, in 7 Fällen fiel Spirit dabei durch.

Mindestens so verstörend wie diese erst in den letzten Wochen, also nach inzwischen jahrelangen Diskussionen über Missstände in der Boeing-Produktionskette, vorgefallenen Verstösse sind einige der Details der FAA-Untersuchungen, die die «New York Times» veröffentlicht. So haben Behördenvertreter während ihrer Untersuchungen bei Spirit Mechaniker dabei beobachtet, wie sie mit der Plastik-Schlüsselkarte eines Hotels Türversiegelungen an 737-Max-Rümpfen überprüften.

In einem anderen Fall wurde beobachtet, wie Spirit-Mitarbeiter Geschirrspülmittel als Schmierstoff nutzten, um eine Türversiegelung zu montieren. Anschliessend reinigten sie die Stelle offenbar mit einem Filtertuch, das üblicherweise in der Küche genutzt wird. Die FAA stellte dazu fest, dass die Vorgaben für das korrekte Vorgehen an diesen Produktionsstationen «vage und unklar» seien, genauso was davon wie dokumentiert werden müsse. Ein Spirit-Sprecher versicherte der Zeitung, alle aufgedeckten Verstösse würden identifiziert und korrigiert.

Wertmaximierung auf die Spitze getrieben

Boeing hatte ihr zuvor zum Unternehmen gehörendes Werk in Wichita 2005 im Streben nach Kosteneffizienz und höherem Shareholder Value an Spirit verkauft. Derzeit wird die erneute Rückübernahme in den eigenen Konzern überprüft. Chef von Spirit ist Pat Shanahan, langjähriger führender Boeing-Manager und 2019 kurzzeitig US-Vizeverteidigungsminister unter Präsident Donald Trump.

Boeing selbst kommentierte die Ergebnisse der FAA-Audits zunächst nicht. Erst Ende Februar hatte die FAA dem Unternehmen nach zuvor aufgedeckten Missständen 90 Tage Zeit gegeben, die Produktionsstandards zu verbessern. Diese leiden weiter darunter, dass nach den aktuellen Untersuchungsergebnissen selbst Boeing-Ingenieure die firmeneigenen Prozesse der Qualitätskontrolle nur unzureichend verstehen. Sechs von der FAA dazu interviewte Ingenieure konnten die ihnen gestellten entsprechenden Fragen zu gerade einmal 58 Prozent richtig beantworten.

Im Flugzeugbau ist die genaue Dokumentation jedes einzelnen Arbeitsschritts aus Sicherheitsgründen zur besseren späteren Nachvollziehbarkeit genau vorgeschrieben. Genau daran scheint es bei Boeing weiterhin eklatant zu mangeln.

Vergangene Woche äusserte sich Jennifer Homendy, die Chefin der US-Verkehrssicherheitsbehörde NTSB, die derzeit die Ermittlungen um den Zwischenfall von Anfang Januar durchführt, vor einem US-Senatsausschuss äusserst frustriert über die trotz stetigen gegenteiligen Beteuerungen mangelnde Kooperation durch den Flugzeughersteller.

«Boeing hat uns die Dokumente und Informationen nicht vorgelegt, die wir in den vergangenen Monaten immer wieder angefordert haben», so Homendy. Ihrer Behörde geht es vor allem darum, herauszufinden, wer genau an der Installation der später herausgerissenen Rumpftür beteiligt war, an der Haltebolzen fehlten.

«Wir haben die Aufzeichnungen nicht, wir haben die Namen nicht. Dass wir sie zwei Monate später nicht besitzen, ist absurd», klagte die NTSB-Chefin. «Wir wissen weiterhin grundlegende Details nicht, das ist wirklich enttäuschend.» Man habe jetzt Anwälte engagieren müssen.

Boeing hatte erklärt, man könne die angeforderten Dokumente nicht finden. Kritiker sehen einen möglichen Zusammenhang zwischen Boeings fehlendem Entgegenkommen und einer jüngst von Passagieren des Alaska-Airlines-Max-9-Flugs im Januar eingereichten Schadenersatzklage über eine Milliarde Dollar gegen den Hersteller.

Hält sich Boeing nicht an einen aussergerichtlichen Deal?

Für den Flugzeugbauer sind die jetzt nach dem FAA-Audit öffentlich gewordenen Vorgänge aus einem anderen Grund höchst brisant: Nach den Abstürzen zweier Max-8-Jets 2018 und 2019 mit insgesamt 346 Toten hatte Boeing mit dem US-Justizministerium eine Einigung erzielt, nachdem der Hersteller gegen eine Zahlung von 2,5 Milliarden Dollar einem strafrechtlichen Verfahren entgangen war. Bedingung dafür war, dass sich Boeing genau an FAA-Vorgaben hält.

Daran hat das Justizministerium seit dem Vorfall im Januar Zweifel, die derzeit massiv untermauert werden. Daher hatte das Ministerium schon vor den jüngsten Enthüllungen eine neue Untersuchung eröffnet, die Boeing durch eine nachträglich verhängte Bestrafung in Bedrängnis bringen könnte.

Unterdessen wurde zu Wochenbeginn der Tod eines wichtigen Whistleblowers in Charleston im Gliedstaat South Carolina bekannt, der gegenwärtig in Verfahren gegen Boeing aussagte. Die BBC zitiert lokale Behörden, er sei am vergangenen Samstag unmittelbar vor weiteren Befragungen mit selbst beigebrachten Wunden tot in seinem Auto aufgefunden worden.

Der 62-jährige John Barnett war seit 2010 Manager für Qualitätskontrolle im Boeing-Werk in Charleston gewesen, wo die Boeing 787 hergestellt wird. Dieses Langstreckenflugzeug war und ist seit seinem Start 2011 von massiven Qualitätsproblemen betroffen. Zeitweise hatten sich wichtige Airline-Kunden wie Qatar Airways geweigert, in Charleston montierte 787 zu übernehmen. Seitdem wurde allerdings die gesamte 787-Produktion von Seattle in die Südstaaten verlegt.

Barnett hatte nach seinem Ausscheiden 2017 öffentlich gemacht, dass durch überhastete und unsorgfältige Montage die Sicherheit bei der 787 gefährdet worden sei. Boeing äusserte sich «betroffen» über seinen Tod. Es gibt derzeit jedoch keine Hinweise auf einen direkten Zusammenhang zwischen Barnetts Tod und den Ergebnissen der Untersuchungen zur Herstellung der Boeing 737 Max.

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