Dienstag, November 26

Seit einigen Wochen melden sich die bisherigen Nachzügler an den Börsen zurück, die ehemaligen Favoriten bekundeten zuletzt Mühe. Schlägt nun die Stunde der günstigen Märkte – und wo findet man diese?

Der Aufwärtstrend an den Börsen ist ins Stottern geraten. Schwächere Konjunkturdaten, die nach wie vor hartnäckige Inflation sowie politische Risiken – nicht zuletzt durch die nahenden Präsidentschaftswahlen in den USA und die Spannungen im Nahen Osten – rückten jüngst in den Vordergrund. Ob die Aktienmärkte lediglich eine Verschnaufpause einlegen oder ob es zu einer grösseren Korrektur kommt, muss sich weisen.

Bemerkenswert ist jedenfalls die Rotation von den bisherigen Börsendarlings zu den Mauerblümchen. Während die Aktien von Technologiekonzernen, die von der Entwicklung bei der künstlichen Intelligenz profitieren sollten, und von Pharmakonzernen, die Abnehmpräparate anbieten, in den vergangenen Wochen unter Druck gerieten, verspürten diverse Nachzügler Auftrieb.

Dazu gehören etwa defensive Sektoren wie Versorger und Basiskonsum, kleinkapitalisierte Unternehmen (Small Caps) und Value-Aktien, die in den vergangenen Wochen kräftig zugelegt haben.

Diverse Überflieger vermochten die hohen Erwartungen der Anleger zuletzt nicht mehr zu erfüllen und wurden abgestraft. In einem solchen Umfeld dürfte es sich lohnen, vermehrt auf Aktien und Märkte zu setzen, die über eine Sicherheitsmarge bei der Bewertung verfügen.

Doch welche Börsen sind teuer – und welche sind günstig?

Was die Bewertungskennzahlen zeigen

Um diese Frage zu beantworten, unterzieht The Market einmal im Quartal 28 Industrie- und Schwellenländer einem umfassenden Bewertungstest. Weil ein direkter Vergleich der Länder wegen der teilweise beträchtlichen Unterschiede in der Sektorzusammensetzung wenig sinnvoll ist – so sind z.B. Technologieaktien typischerweise höher bewertet als Versorgertitel –, wurde die Bewertung für jeden Markt mit seiner eigenen Historie verglichen und der sogenannte Perzentilrang ermittelt.

Um ihn zu bestimmen, ordnet man alle Kennzahlen der Reihe nach und schaut, an welcher Stelle sich der heutige Wert befindet.

Ein Beispiel: Für den MSCI Switzerland bewegte sich das über den Konjunkturzyklus geglättete Kurs-Gewinn-Verhältnis (Shiller-KGV, siehe Erklärung am Ende des Artikels) in der Vergangenheit zwischen 8,5 und 57,8. Ordnet man nun alle seit 1982 monatlich verfügbaren Bewertungszahlen aufsteigend an, kommt der jüngste KGV-Wert von 24,9 auf Rang 299 von 510 zu liegen. Mit anderen Worten: In 298 Monaten, oder in 58,4% der Fälle (298/510 = 58,4%), war die Bewertung niedriger als heute, in 41,6% (212/510) war sie höher. Es gilt: Je höher der entsprechende Perzentilrang – er bewegt sich zwischen 0 und 100 –, desto unattraktiver ist die Bewertung.

Schweizer Aktien liegen also gemäss dem Shiller-KGV etwas über der Mitte der historischen Bewertungsspanne und notieren gegenwärtig leicht über dem fairen Wert. Auf Basis des vorwärtsgerichteten KGV (81. Perzentil), des Kurs-Umsatz-Verhältnisses (91. Perzentil) und des Kurs-Buchwert-Verhältnisses (91. Perzentil) erscheinen hiesige Papiere noch teurer. Einzig bezüglich der Dividendenrendite (35. Perzentil), die im historischen Vergleich attraktiv ist, vermag der Schweizer Markt zu glänzen.

Dieses Vorgehen wird für die wichtigsten Aktienindizes durchgeführt.

Shiller-KGV: Niederlande am teuersten

Wie sieht das Resultat aus? Gemessen am Shiller-KGV (blaue Balken links in der Grafik unten) schaffen es wie bereits in der letzten Bewertungsübersicht im April die Niederlande, Taiwan und Indien auf die Podestplätze der teuersten Märkte. Mit einem Bewertungsperzentil von exorbitant hohen 97,4 (Vorquartal: 97) belegen niederländische Aktien den Spitzenrang. Dahinter folgt die taiwanische Börse, deren Shiller-KGV inzwischen das 97. Perzentil erreicht (Vorquartal: 89). Auf Platz drei rangiert Indien mit einem Wert von ebenfalls stolzen 96,8 (Vorquartal: 94).

Gemäss Shiller-KGV am günstigen Ende der Bewertungsskala finden sich die Börsenbarometer von Chile (2. Perzentil), Hongkong (2. Perzentil) sowie China (8. Perzentil).

Der gleiche Ansatz wurde bei vier weiteren Bewertungskennzahlen angewandt: beim vorwärtsgerichteten KGV (gelbe Balken), beim Kurs-Umsatz-Verhältnis (grün), beim Kurs-Buchwert-Verhältnis (rot) sowie bei der Dividendenrendite (violett). Die verschiedenen Bewertungsmasse werden am Ende des Artikels erläutert.

Indien erobert den Spitzenplatz

Zur besseren Lesbarkeit lassen sich die fünf Bewertungskennzahlen in ein Gesamtmass aggregieren. Dabei bestätigt sich, was sich oben bereits abgezeichnet hat: Aus Bewertungssicht sind die Aktienmärkte Indiens, der USA und Taiwans besonders unattraktiv. Unmittelbar dahinter folgen die Börsen der Niederlande, Australiens und der Schweiz.

Den Spitzenplatz der teuersten Börsen hat neu Indien inne: Das Land erreicht derzeit das sehr hohe 94. Perzentil (Vorquartal: 89. Perzentil). Allein seit Jahresbeginn ist der Sensex 30 um rund 12% vorgeprescht, der breitere S&P BSE 500 ist sogar um 19,4% nach oben geklettert. Wegen der starken Rupie ist die Entwicklung in Franken gerechnet noch erfreulicher. Die Verunsicherung unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen Anfang Juni, als der Sensex 30 an einem Tag nahezu 6% einbüsste, hat sich rasch gelegt.

Allerdings ziehen Wolken auf. Das Umsatzwachstum der indischen Unternehmen ausserhalb des Finanzsektors belief sich zuletzt auf bloss noch magere 3% in Lokalwährung. Für die Strategen des kanadischen Analysehauses BCA Research ist das ein Warnsignal, denn in der Vergangenheit war ein solch langsames Wachstum immer mit fallenden Gewinnen verbunden gewesen. Erste Anzeichen einer gemächlichen Gewinnentwicklung sind bereits auszumachen: Analysten haben damit begonnen, ihre Gewinnprognosen nach unten anzupassen.

Dafür sind nicht zuletzt die restriktiven fiskal- und geldpolitischen Rahmenbedingungen verantwortlich. So sind die Haushaltsausgaben in den vergangenen zwei Jahren real, also nach Abzug der Inflation, gesunken, während die realen Kreditkosten im gleichen Zeitraum wegen der äusserst restriktiven Geldpolitik – die indische Zentralbank hat die Zinsen von 2022 bis 2023 von 4 auf 6,5% angehoben – deutlich gestiegen sind, was die Liquiditätsbedingungen belastet.

Zudem war die Aufwärtsbewegung indischer Aktien fulminant, und eine Verschnaufpause scheint angezeigt. In Kombination mit der luftigen Bewertung sind die Risiken einer Korrektur der indischen Börse nicht zu unterschätzen.

Verwundbare US-Aktien

US-Aktien bleiben aus Bewertungssicht ebenfalls anfällig für Enttäuschungen. Sie erreichen das 93. Perzentil, womit sie nochmals leicht teurer geworden sind (Vorquartal: 91. Perzentil). Die Marktstrategin Savita Subramanian von Bank of America sieht den S&P 500 deshalb für den Rest des Jahres in einer engen Spanne und prognostiziert wegen der hohen Bewertung für die kommenden zehn Jahre nur geringe Kursavancen.

Auch Andrew Lapthorne, quantitativer Analyst in Diensten von Société Générale, ist vorsichtig: «Da US-Aktien mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis für Ende 2025 von 19,8 gehandelt werden, gibt es wenig Spielraum für Gewinnenttäuschungen.» Dass auch die bisherigen US-Darlings, die sich primär in Segmenten finden, die von den Fortschritten bei der künstlichen Intelligenz profitieren dürften, nicht unverwundbar sind, hat sich in den vergangenen Wochen gezeigt.

Nach enttäuschenden Ergebnissen mussten u.a. die Aktien von Alphabet und Tesla Federn lassen, Nvidia hat innerhalb von rund drei Wochen rund ein Viertel an Wert eingebüsst. Auch andere populäre KI-Aktien wie Broadcom, Arista Networks oder Super Micro Computer stehen seit einigen Wochen erheblich unter Druck.

Neben den USA zählen auch Taiwan und die Niederlande zu den besonders teuren Märkten. Beiden ist gemein, dass sie – wie die USA – über einen hohen Anteil an Technologieaktien aufweisen. So hat IT im MSCI Taiwan ein Gewicht von mehr als 70%, beim MSCI Netherlands sind es mehr als 50%. Geht die Rotation aus den grossen Wachstumswerten in die Nachzügler weiter, dürften neben den USA auch diese beiden Börsen gefährdet sein.

Mexiko ist markant günstiger geworden

Wer günstig bewertete Indizes sucht, wird in Schwellenländern fündig. Ungewöhnlich günstig relativ zur eigenen Historie sind zurzeit die Börsen in Hongkong (4. Perzentil) und in Chile (8. Perzentil) – beide erreichen ein Bewertungsmass im einstelligen Bereich. Ebenfalls attraktiv bewertet sind Aktien aus Mexiko (15. Perzentil), Polen (18. Perzentil), China (18. Perzentil), Brasilien (18. Perzentil) sowie Südafrika (19. Perzentil). In Europa machen sich Spanien und Italien positiv bemerkbar.

Die grösste Bewertungskontraktion im Quartalsvergleich hat Mexiko erfahren: Der Gesamt-Score ist um 16 Prozentpunkte auf 15 Zähler gefallen, womit das Land neu zu den günstigsten überhaupt zählt.

Die Börse reagierte mit markanten Abgaben auf den Erdrutschsieg der Partei Morena und auf die Wahl von Claudia Sheinbaum zur neuen Präsidentin Mexikos. Am Montag nach dem Wahlwochenende, am 3. Juni, sackte der MSCI Mexico um nahezu 5% ab, seit Jahresbeginn hat er 9% eingebüsst (in Dollar beläuft sich der Verlust auf 18%), während der Weltaktienindex von MSCI rund 8% im Plus notiert.

Die Anleger befürchten, die Regierung werde ihre Mehrheitsverhältnisse nutzen, um Verfassungsänderungen vorzunehmen, die den Standort Mexiko für Unternehmen schwächen werden und sehen die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr. Ein weiteres Problem stellt die jüngste Währungsschwäche dar. Der Peso hat sich in diesem Jahr auf handelsgewichteter Basis um mehr als 6% abgewertet, was den jüngsten Anstieg der Inflation begünstigt hat.

Die zunehmenden handelspolitischen Spannungen belasten Mexiko ebenfalls. In den vergangenen Jahren gehörte das Land zu den grossen Profiteuren der Entkopplung zwischen den USA und China, der zunehmende globale Protektionismus stellt nun aber eine grösser werdende Gefahr dar. «Unter den aufstrebenden Volkswirtschaften sind China und Mexiko am anfälligsten für protektionistische Massnahmen der USA, unabhängig davon, wer der nächste US-Präsident sein wird», meint Jon Harrison vom Londoner Analysehaus TS Lombard. Mexiko ist zudem politisch unter Druck, weil es sowohl Durchgangsland für illegale Einwanderer in die USA ist als auch als Basis für chinesische Exporteure gilt, die US-Importrestriktionen umgehen wollen.

Vor diesem Hintergrund dürften mexikanische Aktien in den kommenden Monaten hohen Schwankungen ausgesetzt sein. Dank der unüblich attraktiven Bewertung sind die langfristigen Aussichten allerdings erfreulich – insbesondere dann, wenn sich die Skepsis der Anleger als übertrieben herausstellen sollte.

Die Bewertungskennzahlen kurz erklärt:

Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)

Die wohl populärste Bewertungskennzahl ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Es setzt den Aktienkurs ins Verhältnis zum Gewinn eines Unternehmens. Handelt eine Aktie an der Börse beispielsweise zu einem Preis von 115.50 Fr., und der Gewinn pro Titel beläuft sich auf 7 Fr., resultiert ein KGV von 16,5.

Typischerweise unterscheidet man zwischen dem historischen und dem vorwärtsgerichteten KGV: Beim historischen wird der zuletzt erwirtschaftete Unternehmenserlös verwendet, beim vorwärtsgerichteten fliesst der (üblicherweise von Analysten) geschätzte Gewinn in die Berechnung ein.

Vereinfacht gesagt gilt, je höher das KGV, desto unattraktiver ist die Bewertung. Allerdings funktioniert das KGV schlecht, wenn der Gewinn sehr rasch wächst. Auch sagt die Kennzahl nichts darüber aus, wie gross das Risiko eines Gewinneinbruchs ist.

Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis (Shiller-KGV)
Anders als das klassische KGV vergleicht das Shiller-KGV den aktuellen Preis einer Aktie oder eines Index mit den durchschnittlichen, inflationsbereinigten Gewinnen der vergangenen Dekade. Damit werden die Gewinnschwankungen der einzelnen Jahre normalisiert, was zu einem stabileren und verlässlicheren Bewertungsmass führt. Wie für das traditionelle KGV gilt auch für das Shiller-KGV: Je niedriger es ist, desto günstiger ist eine Aktie und desto grösser typischerweise das Kurspotenzial für die kommenden Jahre.

Dividendenrendite
Die Dividendenrendite zeigt die ausgeschüttete Dividende im Verhältnis zum Aktienkurs. Je höher die Dividendenrendite, desto attraktiver scheint eine Aktie. Vielen Anlegern ist eine hohe Ausschüttung wichtig, da sie für einen stetigen Liquiditätsfluss sorgt. Allerdings kann eine allzu hohe Rendite auch signalisieren, dass eine Gesellschaft in Schieflage geraten ist, da die Rendite automatisch steigt, wenn der Aktienkurs einbricht. Dann steht oft eine Kürzung bevor. Wichtiger als ihre absolute Höhe ist deshalb oftmals, dass die Ausschüttung stetig steigt. Da nicht alle Unternehmen eine Dividende entrichten, funktioniert dieser Indikator nicht immer.

Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV)
Ein klassisches Bewertungskriterium ist das KBV, das auf Benjamin Graham, den Übervater der Value-Anleger, zurückgeht. Hierbei wird der Aktienkurs mit dem bilanzierten Eigenkapital verglichen. Je höher das KBV, desto unattraktiver die Bewertung. Da der Buchwert in der Regel positiv ist, kann das Mass auch dann verwendet werden, wenn ein Unternehmen keinen Gewinn schreibt. Allerdings ist der Buchwert nicht immer ein verlässliches Abbild des «wahren» Unternehmenswerts, da er immaterielle Werte wie Patente oder Know-how nur unzulänglich erfasst (speziell bei IT- und Pharmagesellschaften).

Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV)
Das KUV setzt die aktuelle Marktkapitalisierung eines Unternehmens ins Verhältnis zum Umsatz des letzten (Geschäfts-)Jahres. Obschon es sich um ein krudes Mass handelt – es ignoriert zum Beispiel die Profitabilität –, hat es seine Daseinsberechtigung. So ist der Umsatz deutlich weniger anfällig für Manipulationen als Gewinn und Buchwert. Wie das KBV lässt sich die Bewertungskennzahl auch für Gesellschaften berechnen, die Verlust schreiben. Ein Unternehmen, das ohne Rücksicht auf die Kosten einen möglichst hohen Umsatz anstrebt, kann allerdings auf Basis des KUV zu günstig aussehen.

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