Dienstag, April 1

Die Terrormiliz entführt, vergewaltigt und ermordet seit Jahren Frauen. Allein in der Stadt Maiduguri gibt es Tausende Opfer. Die Diözese bem¨üht sich, den Überlebenden psychologische Hilfe zu bieten und einen Neuanfang zu ermöglichen.

Sorgfältig stellen die Frauen ihre Flip-Flops neben die Matten, dann lassen sie sich dicht an dicht nieder. Rund vierzig sind heute gekommen, für mehr hätte der Platz auch nicht gereicht. Martha Gabriel Tumba und ihre Kollegin Bilkisu Bambo warten ab, bis sich alle untereinander begrüsst haben. Dabei schauen die beiden Therapeutinnen aufmerksam hin, wie sich die Frauen auf die Matten setzen, ob sich einzelne womöglich von den anderen abwenden, wer Blickkontakt meidet und wer Kontakt oder Nähe sucht.

Die Frauen treffen sich in einem Stadtviertel von Maiduguri, der Hauptstadt des Gliedstaates Borno im Nordosten Nigerias. Die Sicherheitslage dort ist schlecht, seit die islamistische Miliz Boko Haram vor vierzehn Jahren damit begann, die Bevölkerung im Namen des Islams zu terrorisieren und gegen die nigerianische Armee zu kämpfen.

Boko Haram terrorisiert die Region Borno

Boko Haram verbreitet seit Jahren Schrecken in der Region

Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Responsibility to Protect wurden allein von 2009 bis 2020 mehr als 35 000 Menschen bei Anschlägen von Boko-Haram-Mitgliedern getötet. Tausende wurden vergewaltigt und schwer verletzt – körperlich und psychisch.

Naomi Ayuba, die es sich gerade auf einer der Matten bequem gemacht hat, musste ihr Dorf ganz im Nordosten Nigerias mit ihrem Mann und ihren sechs Kindern schon vor neun Jahren verlassen. «Die Aufständischen», wie die brutale Boko-Haram-Miliz hier von vielen genannt wird, hätten ihr Dorf eines Tages überfallen, die Häuser und Hütten in Brand gesetzt, wahllos angefangen zu töten und den Besitz der Dorfbewohner geplündert. Ayuba und ihre Familie ergriffen panisch die Flucht, schafften es bis Maiduguri.

Seitdem sei sie jahrelang nicht mehr zur Ruhe gekommen, erzählt Ayuba. «Meine Gedanken drehten sich im Kreis, ich konnte nicht schlafen, musste oft plötzlich weinen.» Immer wieder dachte sie an das, was sie verloren hatte: ihre Tiere, ihre Heimat, fruchtbare Felder – ein friedliches, auskömmliches Leben. Vor fünf Monaten habe sie von dem Angebot gehört, andere Frauen mit ähnlichen Schwierigkeiten zu treffen und sich gemeinsam helfen zu lassen, ganz in der Nähe des Flüchtlingslagers, in dem sie wohnt.

Seitdem kommt sie wöchentlich zu den Treffen, die von Martha Gabriel Tumba und Bilkisu Bambo geleitet werden. Die beiden Frauen arbeiten für das Programm «Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung» der katholischen Nichtregierungsorganisation Kommission für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (JDPC). Seit 2019 bietet das Programm psychologische und psychosoziale Hilfe in mehreren nordostnigerianischen Städten an. Und zwar Vertriebenen und Nichtvertriebenen, Erwachsenen ebenso wie Schülerinnen und Schülern – in mehreren Schulen gibt es inzwischen regelmässig Treffen von Klubs für psychische Gesundheit.

Terrorisiert und alles verloren

Die Initiative geht auf Pater Joseph Bature zurück. Der 43-jährige Priester studierte vor einigen Jahren klinische Psychologie, um Vertriebene und Überlebende von Gewalt psychisch unterstützen zu können. Die Konfession der Hilfesuchenden spielt für ihn keine Rolle. «Wenn jemand in Not ist, kommt es auf seine Religion nicht an», betont der Priester. Seit 2019 gehen speziell geschulte Teams der JDPC in Vertriebenenlager, Stadtviertel und Schulen, laden die Menschen zu Gruppentherapie ein, die Sitzungen finden regelmässig statt.

Es melden sich Vertriebene, die ihren ganzen Besitz verloren haben. Menschen, die zusehen mussten, wie Ehemann, Ehefrau oder Kinder ermordet wurden. Überlebende sexueller Gewalt. Männer oder Frauen, die gekidnappt worden waren und dann monate- oder gar jahrelang als Gefangene mit der islamistischen Miliz hatten leben müssen, zu körperlicher Arbeit, Sex oder zum Kämpfen und Töten gezwungen.

Aber die Menschen seien ja nicht nur psychisch belastet, betont Bature. «Viele haben ausserdem all ihren Besitz verloren und sind jetzt völlig mittellos.» Die berechtigten Existenzängste, die Sorge um die Zukunft der Kinder und die Armut erschwerten die psychische Heilung. Die JDPC unterstützt die Menschen deshalb auch auf dem Weg zurück in die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Sie können lernen, Seife und Lebensmittel aus lokalen Produkten oder Handwerksartikel herzustellen. Unternehmerische Grundlagen lernen sie auch.

Naomi Ayuba und die anderen Frauen haben mittlerweile angefangen, «Mensch ärgere dich nicht» zu spielen. Alle sind jetzt ganz bei der Sache. «Die meisten Frauen entspannen sich dabei», sagt Tumba. Diejenigen, die unter den immergleichen Gedankenschleifen leiden, werden abgelenkt. Wer sich sonst zurückzieht, kommt beim Spielen mit anderen in Kontakt. Und dass sie Freude empfinden, ist nicht zu überhören, immer wieder brechen die Frauen in gemeinsames Lachen aus.

Die wöchentlichen Treffen hätten ihr sehr geholfen, bestätigt die 40-jährige Ayuba. «Ich habe meinen inneren Frieden wiedergefunden», sagt sie. Sie könne besser schlafen und über anderes nachdenken als den traumatischen Überfall und den Verlust ihres alten Lebens. Wenn die Grübeleien sie zu überwältigen drohen, zieht sie sich nicht mehr zurück, sondern sucht das Gespräch mit anderen.

Die Traumata nicht an die nächste Generation weitergeben

Auch ihre wirtschaftliche Lage habe sich grundlegend verändert. «In der Gruppe haben sie uns geraten, einfach den ersten Schritt zu gehen, egal, wie klein er ist.» Das nahm sich Ayuba zu Herzen. Dann hatte sie das Glück, dass ihr jemand 2500 Naira schenkte, umgerechnet nicht einmal 3 Franken. Ayuba kam auf die Idee, Grashüpfer zu fangen, zu frittieren und sie dann zu verkaufen – in Nordostnigeria sind Grashüpfer eine Delikatesse. Das Geschäft läuft gut, Ayuba konnte es schon erweitern, bietet nun auch frittierte Fische an. Natürlich brauchte sie dafür das Startkapital von 2500 Naira, wie sie sagt. «Aber das Wichtigste war, dass ich wieder den Mut hatte, mein Leben in die Hand zu nehmen.»

Pater Bature sieht seinen Ansatz durch solche Erfolgsgeschichten bestätigt. Etwa 1800 Menschen hätten sie bereits unterstützen können, der Bedarf sei noch weit grösser. Die psychische und soziale Unterstützung der Menschen sei nicht nur wichtig, um das Leid Einzelner zu lindern. Sondern auch, um die Gesellschaft zu heilen. «Wir wissen mittlerweile, dass Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden», sagt der Priester. Wer darunter leide, sei weniger produktiv. Die Armut nehme zu und damit auch die Kriminalität. Psychische Heilung und wirtschaftliche Stabilität seien nötig, um einen Teufelskreis der Gewalt zu verhindern.

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