Entlang der israelisch-libanesischen Grenze herrscht noch lange keine Normalität. Die beiden Seiten beschiessen sich weiterhin – und werfen sich Brüche des Abkommens vor. Flammt der Krieg wieder auf?
Dort, wo alles begann, herrscht jetzt Ungewissheit. «Ich hoffe sehr, dass der Waffenstillstand hält», sagt Shiraz, eine junge Frau aus Majdal Shams, am Samstag. «Aber ich glaube nicht wirklich daran.» Shiraz arbeitet an der Kasse in einem kleinen Supermarkt in den von Israel besetzten Golanhöhen, nur wenige hundert Meter von der libanesischen Grenze entfernt. Gegenüber vom Supermarkt befindet sich jener Fussballplatz, wo Ende Juli zwölf Kinder durch eine Hizbullah-Rakete getötet wurden. Noch heute ist der Zaun des Sportplatzes zerfetzt, so wie am Tag nach dem Einschlag.
Der grausame Tod der Kinder erschütterte Israel – und markierte den Auftakt zur Eskalation der israelischen Kampagne gegen die Schiitenmiliz. Nach monatelangem gegenseitigem Beschuss über die Grenze dezimierte Israel in kürzester Zeit die Hizbullah-Führung, tötete wohl Tausende Kämpfer und zerstörte einen Grossteil des Raketenarsenals der militanten Islamisten. Nach wochenlangen Hammerschlägen stimmte der Hizbullah Ende November einem Waffenstillstand zu, den er so nie akzeptieren wollte.
Nicht einmal eine Woche später ist dieses Abkommen allerdings so brüchig, dass eine Wiederaufnahme des Kriegs möglich ist. Am Wochenende waren entlang der israelisch-libanesischen Grenze immer wieder Bombardements der israelischen Luftwaffe zu hören. Am Montagabend feuerte der Hizbullah erstmals seit Beginn des Waffenstillstandes zwei Artilleriegeschosse auf israelisches Territorium. Laut der Miliz war es ein Warnschuss als Antwort auf die «wiederholten Verstösse» Israels gegen das Abkommen. Die israelischen Streitkräfte flogen ihrerseits kurz darauf eine Welle von Luftangriffen in Südlibanon.
Die USA und Frankreich warnen Israel
Nicht nur der Hizbullah, sondern auch die USA und Frankreich haben Israel laut Medienberichten vorgeworfen, die Bedingungen des Waffenstillstands zu brechen oder zumindest sehr eigenwillig zu interpretieren. So hat Israel seine Drohnenflüge über Beirut fortgesetzt und soll gegen angebliche Verstösse des Hizbullah vorgegangen sein, ohne sich mit den Garantiemächten des Waffenstillstands abgesprochen zu haben.
Israel scheint dies nicht zu bestreiten. Am Montagabend kündigte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu an, dass Israel weiterhin mit voller Kraft auf jeden Bruch des Waffenstillstandes antworten werde. Am Dienstag schickte der Verteidigungsminister Israel Katz zudem eine unverblümte Warnung an die libanesische Regierung: Sollte das Abkommen scheitern, werde Israel keinen Unterschied zwischen dem Hizbullah und dem libanesischen Staat mehr machen – und er drohte implizit mit Angriffen gegen staatliche Einrichtungen.
In Israel wurden am Montag auch jene Stimmen lauter, die das Abkommen ohnehin skeptisch sehen. Der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich forderte sogleich einen harten Schlag gegen den Hizbullah – was einem Ende des Waffenstillstandes gleichkommen würde. Am Sonntag hatte Smotrich das Grenzgebiet im westlichen Galiläa besucht und verkündet, dass die von Israel zerstörte Infrastruktur in Südlibanon nicht wieder aufgebaut werden dürfe.
Von vielen libanesischen Dörfern direkt an der Grenze sind nur Ruinen übrig. Bisher hinderte die nach wie vor in Südlibanon stationierte israelische Armee die Bewohner an ihrer Rückkehr. Ob Israel dauerhaft verhindern will, dass Libanesen wieder an der Grenze leben, ist unklar – beides dürften der Hizbullah und die libanesische Regierung nicht akzeptieren, was ebenfalls ein Wiederaufflammen der Kämpfe zur Folge haben könnte.
Keine Rückkehr zur Normalität
Auch auf der israelischen Seite der Grenze kann derweil von einer Rückkehr zur Normalität nicht die Rede sein. Grenzdörfer wie Margaliot und Metula sind immer noch verlassen, viele Häuser sind zerstört oder beschädigt. Kiryat Shmona, die grösste Stadt in Israels Norden, glich bei einem Besuch der NZZ am Wochenende einer Mischung aus Geister- und Garnisonsstadt.
Noch immer sind weitaus mehr Soldaten als Bewohner auf den Strassen zu sehen, die uniformierten Männer bewegen schweres Gerät und beäugen jeden Fremden argwöhnisch. Viele der mehr als 60 000 evakuierten Israeli sind nicht zurückgekehrt – laut einem Bericht des israelischen Fernsehsenders Kanal 12 will die Regierung den Bewohnern des Nordens erst im Februar 2025 empfehlen, in ihre Häuser zurückzugehen. Offenbar trauen auch Israels Entscheidungsträger der temporären Ruhe an der Grenze bis auf weiteres nicht.