Sonntag, Oktober 20

Während Israels Luftwaffe auch ausserhalb der Schiitengebiete Angriffe fliegt, versuchen Libanons Politiker einen Ausweg aus der dramatischen Situation zu finden. Aber die Hizbullah-Gegner haben es schwer.

Elie al-Wain steht auf den Trümmern seines Zweithauses. Das rote T-Shirt des 42-Jährigen leuchtet in der Sonne. Er habe das Gebäude über einen Freund aus Australien an eine schiitische Flüchtlingsfamilie aus dem Süden vermietet, erzählt er. Über 20 Zivilisten hätten am Ende hier gewohnt. Dann kam der Angriff. Am Montagnachmittag zerlegte eine israelische Fliegerbombe das mehrstöckige Gebäude mit gewaltiger Wucht.

Jetzt sind davon nur noch geborstene Betonteile und Schutt übrig. Dazwischen liegen die Lappen verkohlter Kleidung, Kinderspielzeug und die zerfetzten Reste menschlicher Körper. Über dem Berghang, wo das Haus einst stand, hängen Staubwolken und der Geruch von frischem Fleisch, wie in einer Metzgerei.

Wer Leute aufnimmt, ist in Gefahr

Der Angriff am Rand des Christendörfchens Aitou im hohen Norden Libanons tötete 22 Menschen, unter ihnen Frauen und Kinder. Er riss den isolierten christlichen Landstrich, fernab der Frontlinie im Süden, wo sich der Hizbullah und Israel heftige Kämpfe liefern, aus seinem friedlichen Dämmerschlaf. Die Nachbarn des getroffenen Hauses stehen immer noch unter Schock. Verwandte der Anwohner sind gekommen, um beim Aufräumen zu helfen.

Möglicherweise sei zum Zeitpunkt des Angriffs ein Hizbullah-Mann im Haus gewesen, um den Flüchtlingen Geld zu bringen, sagt Rene Mouwad, ein Verwandter eines der Nachbarn. In einem der verkohlten Autos liegen tatsächlich Märtyrerplakate der Miliz. Beweisen tut das allerdings noch nichts. «Und überhaupt: Ich verstehe nicht, warum die Israeli ihr Ziel dann nicht auf einer einsamen Landstrasse ausgeschaltet haben, anstatt gleich das ganze Haus zu bombardieren.»

Der Angriff auf den Ort Aitou ist nicht der erste seiner Art. Immer wieder fliegt Israels Luftwaffe inzwischen auch Angriffe auf Ziele ausserhalb der Schiitengebiete. «Warum sie das tun, ist uns allen klar», sagt Wain. «Sie wollen zeigen, dass jeder, der Leute aus dem Süden aufnimmt, jetzt selber in Gefahr ist.»

Die ersten Hizbullah-Gegner kommen aus der Deckung

Drei Wochen nach Beginn der israelischen Offensive gegen den Hizbullah geraten auch jene Libanesen, die es nicht mit der Miliz halten oder ihr unbeteiligt gegenüberstehen, unter Druck. Und mit ihnen die bis anhin völlig gelähmt wirkenden, oftmals korrupten Politiker des Landes. Bereits vor der Eskalation im September hatten sich viele von ihnen gegen den Kampf des Hizbullah gestellt, der im vergangenen Oktober zur Unterstützung der Hamas eine zweite Front gegen Israel eröffnet hatte.

Damals konnten sie gegen die übermächtige Schiitentruppe kaum etwas ausrichten. Doch jetzt, da die Miliz unter den Schlägen der Israeli wankt, Hunderttausende Schiiten auf der Flucht sind und selbst die Wohngebiete der Christen und Sunniten gelegentlich zu Zielen von israelischen Angriffen werden, müssten sie eigentlich aktiv werden, um ihr Land zu retten.

Tatsächlich wagen sich rund drei Wochen nach dem Tod des Hizbullah-Führers Hassan Nasrallah die ersten Exponenten aus der Deckung. Am vergangenen Samstag lud der mächtige Christenführer Samir Geagea zu einer grossen Konferenz in die Zentrale seiner Partei Libanesische Kräfte (LF) ein, die sich selbst als Avantgarde der Anti-Hizbullah-Front versteht. Man verlange ein sofortiges Ende des Krieges, sagte Geagea, sowie eine Umsetzung der Uno-Resolutionen 1701 und 1559, die unter anderem eine Entwaffnung des Hizbullah vorsehen.

Fehden und Streitigkeiten

Ob sich das erreichen lässt, ist ungewiss. Denn die libanesischen Politiker sind berühmt für ihre Fehden, die jegliche Entscheidungsfindung unmöglich machen. Unter den Christen etwa bekämpfen sich die Anhänger Geageas und diejenigen des ehemaligen Staatspräsidenten Michel Aoun schon seit den späten achtziger Jahren. Die Sunniten sind seit dem Niedergang der Sippe des 2005 ermordeten ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri führerlos. Und die Drusen, oftmals das Zünglein an der Waage, warten erst einmal ab.

Dabei brauchen die Libanesen eine funktionierende Regierung und vor allem einen neuen Präsidenten, um überhaupt wieder handlungsfähig zu werden. Aber die Besetzung des seit zwei Jahren vakanten Posten des stets christlichen Staatsoberhaupts gestaltet sich schwierig. Hatte vor dem September vor allem der Hizbullah vergeblich versucht, seinen Wunschkandidaten durchzubringen, sind es jetzt auch die übrigen Parteien, die sich nicht einigen können.

Als Kronfavorit gilt Joseph Aoun, der derzeitige Chef der Armee. Er wird offenbar auch von den Amerikanern und den mächtigen Golfstaaten unterstützt, die in der Schwächung des Hizbullah eine Chance sehen, Libanon aus dem iranischen Orbit herauszulösen. Doch schon innerhalb der Christen sorgt die Personalie Aoun für Streit. Teile von ihnen sähen lieber den Neffen des letzten Präsidenten, Gibran Bassil, an der Spitze der Republik.

Der Hizbullah ist noch nicht geschlagen

Doch selbst wenn es gelänge, den Posten zu besetzen, wäre damit wenig gewonnen. Denn der Hizbullah würde eine Entwaffnung – welche inzwischen angeblich auch Israel als Bedingung für ein Ende des Krieges verlangt – wohl kaum einfach so hinnehmen. Manche Libanesen hoffen, dass es der Armee gelingen könnte, die Miliz zur Räson zu bringen. Doch die multikonfessionelle Truppe war an ähnlichen Aufgaben in der Vergangenheit immer wieder zerbrochen.

Zudem ist der Hizbullah noch lange nicht geschlagen. Im Süden liefern sich die Bodentruppen der Miliz harte Gefechte mit den Israeli. Und in seiner letzten Rede machte Naim Kassem, das derzeitige Gesicht des Hizbullah, einmal mehr klar, dass seine von Iran unterstützte Bewegung bereit sei weiterzukämpfen. «Wir werden den Israeli Schmerz zufügen», sagte er, kurz nachdem seine Leute auf einer Militärbasis im Nachbarland vier Soldaten mit einer Drohne getötet hatten.

Gleichzeitig scheint die Miliz aber auch um ihre Grenzen zu wissen – und ist einem Waffenstillstand nicht abgeneigt. So verpflichtete sich Kassem zwar immer noch der palästinensischen Sache. Eine Waffenruhe in Gaza gilt ihm allerdings nicht mehr als Vorbedingung für ein Kriegsende in Libanon. Der Krieg, so Kassem, sei längst keine Unterstützerfront für die Hamas mehr. Sondern ein patriotischer Kampf zur Verteidigung Libanons.

Verbarrikadierte Dörfer

Für die Gegner der Miliz klingt das wie purer Hohn. Doch angesichts der nach wie vor existierenden Stärke des Hizbullah beschränken sich dessen Politiker aufs Machbare. «Wir wollen verhindern, dass unser Land im Bürgerkrieg versinkt oder die verschiedenen Religionsgruppen gegeneinander aufgewiegelt werden», sagt ein Vertreter der LF. Aber auch das ist nicht einfach. Denn in vielen Gegenden des Landes geht immer mehr Angst um. Manche Christen haben deshalb bereits die Eingänge ihrer Dörfer verbarrikadiert.

Noch widerstehe man der Spaltung, sagt Estephan Frangieh, ein Priester im Spital der Stadt Zgharta, wo die Verletzten des Bombenangriffs aus dem nahen Aitou hingebracht wurden. «Muslime und Christen leben hier zusammen. Das ist ein Krieg gegen uns alle.» Oben im Dorf haben Rettungskräfte derweil ein totes Baby aus einem schwerbeschädigten Autowrack geborgen. Während sie die winzige Leiche, umhüllt von einer Plastikplane, wegbringen, sind am Himmel zwei weisse Streifen zu sehen. Es sind die Kondensstreifen israelischer Kampfflugzeuge.

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