Der japanische Schriftsteller Yukio Mishima, der vor hundert Jahren geboren wurde, ist vor allem durch seinen Freitod im Zuge eines Putschversuchs berühmt geworden. Sein literarisches Werk ist nach wie vor zu entdecken, zum Beispiel der Roman «Der Held der See».
Yukio Mishima wurde am 14. Januar 1925 in Tokio geboren; am 25. November 1970 nahm er sich nach einem gescheiterten politischen Umsturz das Leben. In Japan erschien sein Roman «Der Held der See», der nun anlässlich seines 100. Geburtstags in der deutschen Neuübersetzung von Ursula Gräfe vorliegt, erstmals 1963. Zuvor hatte der Verlag Kein & Aber bereits die Bände «Bekenntnisse einer Maske», «Der goldene Pavillon» und «Leben zu verkaufen» vorgelegt.
Die Geschichte von «Der Held der See» spielt in Yokohama in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Buch ist unterteilt in die beiden Kapitel «Sommer» und «Winter»; die Handlung umfasst den Zeitraum von ungefähr einem halben Jahr, in dem es um den Jungen Noboru, seine Mutter Fusako Kuroda und den Seemann Ryuji Tsukazaki geht.
Tief in Ungnade
Fünf Jahre zuvor ist der Vater des Jugendlichen gestorben. Der Heranwachsende begeistert sich für die Seefahrt und besichtigt mit seiner Mutter zusammen einen Frachter im Hafen von Yokohama, wo der Zweite Offizier Ryuij Tsukazaki den beiden das Schiff zeigt. Aus dieser Begegnung ergibt sich eine Liebesbeziehung, die zur Heirat zwischen der Geschäftsfrau und dem Matrosen führt, der sich für das Leben an Land entschieden hat.
Bei dem Jungen fällt er durch diesen Entschluss tief in Ungnade. Noboru ist Teil einer Gruppe von sechs Jugendlichen, die den Seemann schliesslich hinrichten wollen. Am Schluss des Buches trinkt Ryuij Tsukazaki den Tee mit den Schlaftabletten, den die Jungs ihm gegeben haben. Der Anführer der Bande hatte sich vorher Gummihandschuhe angezogen, ein Vorgang, der auf die Obduktion einer kleinen Katze anspielt, die Noboru getötet hatte.
Ursula Gräfe erwähnt in ihrem Nachwort, dass der japanische Titel des Buches «Gogo no eiko» wörtlich «Schleppen am Nachmittag» bedeutet. Dies bezieht sich vor allem auf die letzte Szene des Romans, wo der Seemann von den Jugendlichen zu einer abgelegenen Stelle geführt wird. Ryuij Tsukazaki «fand sie für ihr Alter alle recht klein geraten und fühlte sich beinahe wie ein mühsam von sechs Schleppern gezogener Frachter», heisst es gegen Ende der Geschichte.
Ursula Gräfe weist darauf hin, dass der Titel «Der Held der See» auf einen Vorschlag von Yukio Mishima an seinen amerikanischen Übersetzer zurückgeht; ähnlich geschah es bereits 1970 bei der ersten deutschen Übersetzung von Sachiko Yatsushiro. Damals hiess der Roman «Der Seemann, der die See verriet».
Mishimas grosse Kunst liegt in der langsamen Zuspitzung der sozialen Konflikte, wobei deren Auflösung am Schluss unausgeführt bleibt. Sich den Tod des Seemanns auszumalen, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Hinzu kommt die gekonnte Ausgestaltung der Ereignisse mit Metaphern, Symbolen und Vergleichen.
Mishima überträgt das Vokabular der Seefahrt auch auf die sozialen Verhältnisse. Die Schultern der Mutter gleichen einer «sanft geschwungenen Küstenlinie». Bei einem Kuss bewegt sie ihre Zunge «wie schwankendes Seegras». Für den Seemann ist ihre «feuchte Mundhöhle» ein «Korallenriff im lauwarmen Ozean». So entsteht eine eigentümliche zweite Sinnlichkeit.
Luxus aus dem Ausland
Die Metaphorik führt weiter in den Bereich der seelischen Eigenschaften. Noboru spricht mit den Erwachsenen nicht über seine Gefühle und Gedanken, nur in seinem Freundeskreis kann er sich mitteilen. Die Obduktion der Katze spielt auf die seelische Erforschung des Menschen an. Der Anführer der sechs Jungen ist der Meinung, dass sich die Realität in einem sinnlosen und verschlossenen Zustand befindet, den nur die Mitglieder der Gruppe verändern können. Wobei für die Probleme der Welt vor allem die Väter verantwortlich sind.
In «Der Held der See» tauchen Themen auf, die Yukio Mishima zeitlebens begleitet haben. Bereits in «Bekenntnisse einer Maske» beschäftigte er sich mit der Welt der Heranwachsenden. Thematisiert wird zudem der wachsende Einfluss der westlichen Kultur auf Japan. So führt die Mutter von Noboru in Yokohama ein Geschäft, in dem sie Luxusmarken aus dem Ausland verkauft.
Den Seemann Ryuij Tsukazaki, der erschöpft ist von den Fahrten auf den Weltmeeren, treibt die eigenartige Vorstellung einer Verbindung von Tod, Ruhm und Weiblichkeit um. Aber auch er verzichtet darauf, seine Gedanken offen mitzuteilen.
Bei der Neuherausgabe des Romans wäre ein kleiner Apparat hilfreich gewesen, in dem einerseits die nautischen Begriffe und andererseits die japanischen Vokabeln erklärt werden, die manchmal auch im übertragenen Sinn von zeichenhafter Bedeutung sind.
Yukio Mishima: Der Held der See. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Verlag Kein & Aber, Zürich 2024. 208 S., Fr. 30.–.