Mittwoch, November 27

Zwei Jahre nach seinem Sturz als Premierminister tritt Boris Johnson mit einer Biografie in die britische Öffentlichkeit zurück. Er glaubt, die Tories hätten unter seiner Führung die letzten Wahlen gewonnen.

In den letzten Monaten war es ruhig um Boris Johnson. Nach seinem erzwungenen Abgang als Premierminister im Zuge der Party-Affäre im Sommer 2022 trat er ein Jahr später als Unterhausabgeordneter zurück. Damit kam er einem Ausschlussverfahren zuvor, nachdem ihn der Ethik-Ausschuss des Unterhauses der Irreführung des Parlaments bezichtigt hatte. Johnson zog mit seiner Frau Carrie und den drei gemeinsamen Kindern von London in die ländliche Grafschaft Oxfordshire, wo er dank Gagen für Zeitungskolumnen und öffentliche Auftritte seine Finanzen in Ordnung brachte. Daneben führte er ein zurückgezogenes Leben und gab kaum Medieninterviews.

Von Netanyahu bis zur Queen

Seit ein paar Tagen aber ist Johnson plötzlich wieder auf allen Kanälen präsent. Der 60-Jährige hat am Donnerstag eine Autobiografie mit dem Titel «Unleashed» («Entfesselt») veröffentlicht, in der er auf seine politische Karriere und namentlich auf seine Zeit als Premierminister von 2019 bis 2022 zurückblickt. Zur Vermarktung seine Werks tourt Johnson derzeit von einer TV-Show zum nächsten Radiostudio.

Seine Entertainer-Qualitäten hat er nicht verloren. Mit seiner Ausstrahlung überschattet er alle seine Nachfolger – von der hölzernen Liz Truss über den technokratischen Rishi Sunak bis zum biederen Keir Starmer, der seit dem Labour-Wahlsieg vom Juli als britischer Premierminister amtiert. In seinem Buch stellt der ehemalige Journalist seinen süffigen Schreibstil unter Beweis, wobei die Biografie mit über 700 Seiten eher ausschweifend als prägnant ausgefallen ist.

Johnson wartet mit allerhand Anekdoten über Persönlichkeiten des Weltgeschehens auf. So behauptet er, der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu habe bei einem Besuch im britischen Aussenministerium ein Abhörgerät in der Toilette versteckt. Donald Trump habe ihm experimentelle, in Grossbritannien nicht zugelassene Medikamente geschickt, als Johnson 2020 nach einer schweren Covid-Erkrankung in einem Londoner Spital um sein Leben kämpfte.

Johnson beschreibt die wöchentlichen Audienzen bei Königin Elizabeth II. als «Psychotherapie». Und er lüftet ein bisher streng gehütetes Geheimnis, wonach die unmittelbar nach seinem Rücktritt als Premierminister verstorbene Queen an Knochenkrebs gelitten habe.

Wladimir Putin soll Johnson mit einem Nuklearschlag auf Grossbritannien gedroht haben. Derweil will der Premierminister während des Streits mit der EU um Covid-Vakzine eine militärische Invasion des Nato-Partnerlandes Niederlande geprüft haben, um 5 Millionen AstraZeneca-Impfdosen zu beschlagnahmen. Wegen des für Johnson typischen, humoristisch-ironischen Tonfalls bleibt offen, wie ernst es ihm mit diesen angeblichen Plänen wirklich war.

Keine Einsicht zur Party-Affäre

Mit seiner Schlagfertigkeit gelang es Johnson in den Medieninterviews der letzten Tage immer wieder, die Gespräche auf seine Errungenschaften zu lenken. Sein historisches Vermächtnis sieht er im Sieg über den «Marxisten» und Labour-Leader Jeremy Corbyn bei der Unterhauswahl 2019, in der Umsetzung des Brexits sowie in der Unterstützung der Ukraine nach der russischen Invasion.

Als Beweis für die Vorteile des Brexits, an denen gemäss Umfragen immer mehr Briten zweifeln, nennt Johnson die frühe und unbürokratische Zulassung der Covid-Impfungen. Zwar hätte Grossbritannien diesen Schritt rechtlich gesehen auch als EU-Mitglied vollziehen können, doch wäre er politisch unwahrscheinlich gewesen. Fest steht, dass das Impfprogramm in Grossbritannien einige Wochen früher anlief als in der EU. Mit seinem klaren Bekenntnis zur forschen militärischen Unterstützung der Ukraine spurte Johnson zudem einen aussenpolitischen Kurs vor, von dem keiner seiner Nachfolger abgerückt ist.

Anders als Liz Truss, die wegen ihrer abenteuerlichen Finanzpolitik zurücktreten musste, scheiterte Johnson nicht an politischen Inhalten. Zu Fall brachten ihn sein fahriger Führungsstil und sein Umgang mit Skandalen, allen voran die Affäre rund um Partys seiner Mitarbeiter an seinem Amtssitz an der Downing Street Nummer 10 während der Pandemie. Diese brachten viele Wähler in Rage, weil Johnson und seine Minister der Bevölkerung gleichzeitig einen strikten Lockdown auferlegt hatten.

Johnson, der die Partys zuerst mehrfach geleugnet hatte, gibt sich im Rückblick wenig einsichtig und hält die Aufregung für übertrieben. Auch die Skandale um Parteikollegen wie den Fraktionschef Chris Pincher, der junge Männer belästigte, tut er als Bagatellen ab. Und er beklagt sich über die Ministerkollegen, die ihn damals mit einer Welle von Regierungsaustritten zum Rücktritt zwangen.

«Hasta la Vista, Baby!»

Bei seiner Buchvernissage in London erklärte Johnson, dass die Konservative Partei die dramatische Wahlniederlage vom Juli hätte vermeiden können, wenn sie ihn zwei Jahre zuvor im Amt belassen hätte. Die rechte Reform-Partei von Nigel Farage sei damals in den Umfragen noch bei einem «Stimmenanteil von null» gelegen, erklärte er. «Wir hätten die Wahl von 2024 gewonnen, dieser Event würde nun mitten in der Anfangsphase der zweiten Johnson-Legislatur stattfinden.»

Auch gemessen an Johnsons legendärem Optimismus mutet diese Behauptung kühn an. Denn es war die «Party-Affäre», die den Popularitätseinbruch der Tories in den Umfragen eingeleitet hatte. Die Haushaltspläne von Truss brachten die Konservativen bei der Bevölkerung dann endgültig in Misskredit, woran auch Rishi Sunak nichts mehr zu ändern vermochte. Zudem ist Johnson für die Einführung jener Brexit-Visaregeln verantwortlich, die nach dem EU-Austritt nicht wie versprochen zu einer Reduktion, sondern zu einer massiven Zunahme der Migration geführt haben. Die rekordhohe Zuwanderung lieferte Farage im Wahlkampf die politische Steilvorlage für seine Stimmengewinne.

Es entbehrt nicht der Ironie: Der neue Labour-Premierminister Starmer, der Johnsons moralische Verfehlungen damals als Oppositionschef harsch kritisiert hatte, muss sich nun selber mit einer Affäre um teure Geschenke und Vergünstigungen herumschlagen. Das nährt Hoffnungen der Tories, dass sich Labour schon nach einer Amtszeit diskreditiert haben könnte. Boris Johnson wäre nicht Boris Johnson, würde er nicht mit dem Gedanken einer Rückkehr als Premierminister kokettieren. Sein grosses Vorbild ist der Kriegspremierminister Winston Churchill, der nach einer sechsjährigen Auszeit 1951 ein zweites Mal in die Downing Street Nummer 10 einzog.

Kemi Badenoch und Robert Jenrick, die beiden verbleibenden Kandidaten um den Vorsitz der Konservativen, gehören dem rechten Tory-Flügel an und wollen die Reform-Wähler zurückholen. Bisher fehlt der Partei aber eine Persönlichkeit, die Johnsons politischen Spagat nachahmen könnte. Ihm war das Kunststück gelungen, dank dem Brexit und dank sozialen Versprechen eine postindustrielle Arbeiterschicht in Nordengland zu umgarnen, aber mit einer ambitionierten Klimapolitik auch progressive städtische und mit klassischem Liberalismus auch traditionelle Tory-Wähler im wohlhabenden Süden anzusprechen.

Wenn ihn Journalisten nach seinen Ambitionen fragen, sagt Johnson in für ihn typischer Manier, die Chance auf eine erneute Wahl zum Regierungschef sei ähnlich gross wie jene, von einem Champagnerkorken im Auge getroffen oder von einem Frisbee geköpft zu werden. Ein Hinweis auf sein Interesse signalisiert ein Zitat von Arnold Schwarzenegger aus dem Film «Terminator 2», das Johnson als Motto an den Anfang seiner Biografie gestellt hat: «Hasta la Vista, Baby!»

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