Die Journalistin Taina Tervonen hat ein Buch geschrieben über die weitreichende Folgen des Kriegs und die Heilsamkeit der Aufarbeitung.
2010 fährt die finnisch-französische Journalistin Taina Tervonen zum zweiten Mal nach Sarajevo. Dort erfährt sie, dass von den 110 000 Opfern des Krieges, der 1995 endete, 30 000 vermisst wurden und nach 10 000 immer noch gesucht wird. Ihnen gilt ihr Interesse.
Kontaktpersonen verweisen sie an eine forensische Anthropologin, die im Nordwesten des Landes ein Identifikationszentrum leitet. Bald schon steht sie mit dieser im Leichenschauhaus von Šejkovača. Tervonen, die einst Archäologin werden wollte, und Senem Škuj, die exhumierte Knochen sortiert, fotografiert und nummeriert, verbindet in Kürze eine besondere Freundschaft. Die Dritte im Bunde ist Darija Vujinović, die Angehörige der Vermissten aufsucht, um Blutproben zu nehmen und in eine Datenbank einzugeben, denn nur eine DNA-Analyse kann eine Identität zweifelsfrei feststellen.
Alles schwierig und unendlich aufwendig, zumal viel Zeit seit dem Krieg vergangen ist. Doch die Hinterbliebenen haben ein Recht, ihre Toten in Würde zu bestatten. Hinzu kommt, dass erst nach einer erfolgreichen Identifizierung der Totenschein ausgestellt werden kann, was einer rechtmässigen «Witwe» oder «Waise» zu Sozialleistungen verhilft.
Enormes Feingefühl
Taina Tervonen spart in ihrer beeindruckenden Reportage «Die Reparatur der Lebenden» nicht mit erschütternden Details über Massengräber, über die Arbeit der Forensikerin Senem und der Ermittlerin Darija, wobei es Erstere mit Toten, Letztere mit Lebenden zu tun hat, was enormes psychologisches Feingefühl erfordert.
Auch geht es nicht um das vieldiskutierte Srebrenica, sondern um kleinere Massengräber im Nordwesten, rund um Prijedor. Hier liessen der serbische General Ratko Mladić und Radovan Karadžić zwecks einer ethnischen Säuberung schon 1992 Tausende von bosnischen und kroatischen Männern umbringen, wobei die Leichen mehrfach versetzt wurden, um die Spuren des Verbrechens zu kaschieren.
Seither gehört das Schweigen von Tätern und Opfern zum heimlichen Konsens, «damit alle wieder nebeneinander existieren können»; den Überlebendenverbänden allerdings macht es den Einsatz schwer. Das Paradoxe an diesem Schweigen: «Die Dinge sind dermassen offensichtlich (. . .), dass man ungeheuer viel Energie aufwenden muss, um sie unter den Teppich zu kehren und so zu tun, als wäre nichts geschehen.»
Tervonen ist Beobachterin und Reporterin, sie vermeidet Urteile, hört lieber zu und stellt Fragen. Ob es denn möglich sei, dass sich nach einem solchen Krieg «eine ganze Nation auf eine Wahrheit einigen kann. (. . .) Um eine Nation zu bilden, ist es vielleicht hilfreicher, auf die Qualifizierung für eine Fussballmeisterschaft zu setzen als auf eine von beiden Seiten getragene Deutung der Geschichte.»
Und doch, die Fakten wiegen schwer. Wenn Tervonen beschreibt, wie Senem in wochenlanger Arbeit Leichenteile einsalzt und mit Mull bedeckt (eine von ihr erfundene Mumifizierungsmethode), um den unerträglichen Gestank zu verringern und eine Konservierung zu ermöglichen, weil für Kühlbehälter das Geld fehlt; wenn sie sorgfältig berichtet, wie 284 Särge mit identifizierten Leichen auf einer riesigen Rasenfläche entladen werden und dort Totenwache und später eine Totenfeier abgehalten wird, ist man tief bewegt. Ebenso, wenn sie Darija über kurvenreiche Strassen zu einer Frau begleitet, deren Sohn ermordet wurde. Die Befragung schmerzt, sie rührt an ein klaffendes Trauma. Vielleicht nicht zufällig gibt es für eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, keinen spezifischen Ausdruck, «als könnte die Sprache selbst es nicht fassen».
Starke Frauen
Ist der «Krieg um das Gedenken» am Ende eine Zumutung für viele, weil er alte Wunden immer wieder aufreisst? So sieht es Taina Tervonen, die mehrere Recherchereisen nach Bosnien unternommen hat, nicht. Auch sie will mit ihrem Buch erinnern: an die selbstlos-hingebungsvolle Arbeit von Frauen wie Senem und Darija, an die «Überlebenden, die weiterhin für ihre Kinder sorgen (. . .), an die Frauen, die Wollsocken stricken, die rauchen und trinken, die gegen ihre Albträume Beruhigungspillen nehmen und sich mit Antidepressiva gegen allzu schmerzliche Erinnerungen wappnen; an die Frauen, die ihre kriegsversehrten Männer pflegen, die die Abwesenheit der Toten aushalten (. . .).»
Ja, es handelt sich um eine Hommage an «starke Frauen, die ihren Kindern vom verstorbenen Vater, vom verschwundenen Cousin erzählen, weil die Kinder Bescheid wissen müssen», und die ihnen nur das Schlimmste verschweigen, um sie nicht zu belasten.
Auf behutsame Weise, ohne sensationslüsterne Töne ist Taina Tervonen ein zutiefst menschliches und empathisches Buch gelungen, das man so schnell nicht vergessen kann. Hinzuzufügen bleibt, dass sie über ihre Reisen und ihre Protagonistinnen Senem und Darija auch einen Dokumentarfilm gedreht hat, der das Thema zusätzlich veranschaulicht. «Eine Geschichte über das, was uns bleibt, wenn der Krieg davonzieht, ohne wirklich zu enden.»
Taina Tervonen: Die Reparatur der Lebenden. Zwei Frauen in Bosnien-Herzegowina auf der Suche nach den Ermordeten des Krieges. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Verlag Paul Zsolnay, Wien 2025. 208 S., Fr. 38.90.