Zehntausende Israeli haben das Land während Netanyahus Justizreform verlassen, viele weitere könnten ihnen wegen des Kriegs folgen. Was bedeutet die Abwanderung für den jüdischen Staat?
«Israel war ein schönes Experiment, aber ich glaube, es ist gescheitert», sagt der junge Israeli Din im September in einer Bar in Berlin-Neukölln. Vor ihm steht ein grosses gezapftes Bier, neben ihm sitzt seine deutsche Freundin. Wenige Wochen zuvor haben beide noch in Jerusalem gelebt, jetzt haben sie Dins Heimatland den Rücken gekehrt – fürs Erste wollen sie nicht zurückzukehren.
Din glaubt nicht daran, dass er eine Zukunft in dem Land hat. Seine Prognose für den jüdischen Staat ist düster, und so ähnlich hört man sie dieser Tage immer öfter unter jungen, linken Israeli: Das Land werde von Fanatikern übernommen, befinde sich in einem nie endenden Kriegszustand und verantworte nicht zu entschuldigendes Unrecht im besetzten Westjordanland sowie im Gazastreifen.
«Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass die Demonstrationen etwas ändern», sagt Din, der selbst für einen Waffenstillstand und gegen die sogenannte Justizreform auf die Strasse gegangen ist. Er hat abgeschlossen mit Israel. Seine deutsche Freundin habe den Entschluss natürlich vereinfacht, sagt er und lächelt. «Aber ich wäre auch sonst gegangen.»
So wie Din denken seit Beginn des Kriegs gegen die Hamas Tausende Israeli. Im Jahr 2024 sind so viele Israeli ausgewandert wie schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr. In den ersten elf Monaten dieses Jahres verliessen 79 000 Menschen Israel, ein Zuwachs um 57,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Ob diese Abwanderung direkt mit dem Krieg zu tun hat, ist jedoch fraglich, denn statistisch werden jene Israeli gezählt, die seit neun Monaten nicht mehr im Land sind, die also teilweise im Jahr 2023 schon vor Ausbruch des Krieges das Land verlassen haben. Noch ist es zu früh, um die direkten demografischen Auswirkungen des Kriegs feststellen zu können. Doch klar ist: Israel hat ein Auswanderungsproblem.
Die Angst vor der Auswanderung
Das ist aber nur eine Seite der Geschichte: Gleichzeitig haben ein Jahr nach dem Krieg über 30 000 Jüdinnen und Juden «Aliyah» beantragt, ihr Geburtsrecht auf Staatsbürgerschaft in Israel. Wegen eines gefühlt und real ansteigenden Antisemitismus ist die Abwanderung von Jüdinnen und Juden aus einigen westeuropäischen Ländern enorm angestiegen. Aus Frankreich kamen im ersten Kriegsjahr über 350 Prozent mehr jüdische Menschen nach Israel als im Vorjahr.
Israel erlebte damit zwar eine Nettoabwanderung, allerdings keinen Massenexodus. Für Israel ist das dennoch besorgniserregend: Denn der jüdische Staat ist seit seinem Ursprung ein Einwanderungsland – und die Angst vor dem Bevölkerungsschwund ist keine neue.
Schon vor knapp sechzig Jahren in den Monaten vor dem Sechstagekrieg beherrschten die hohen Auswanderungszahlen die israelische Öffentlichkeit. Damals, noch nicht einmal 20 Jahre nach der Staatsgründung, war die Emigration das grösste Schreckgespenst: Ohne eine stetig wachsende Bevölkerung war das zionistische Projekt in Gefahr.
Für eine Katastrophe reichen wenige Auswanderer
Heute bestehe der jüdische Staat schon so lange, dass die massenhafte Flucht von Jüdinnen und Juden aus Israel keine grosse Gefahr mehr sei, sagt Dan Ben-David. «Aber es müssen auch gar nicht so viele das Land verlassen, damit Israel ein grosses Problem bekommt», sagt der Professor von der Universität Tel Aviv und Leiter des israelischen Shoresh-Instituts für sozioökonomische Forschung.
Die Volkswirtschaft der «Startup-Nation» Israel ist wie kaum eine andere von gut ausgebildeten Spezialisten abhängig. «In Israel arbeiten nur rund sechs Prozent aller Arbeitnehmer im Hightech-Bereich», sagt Ben-David. «Gleichzeitig sind diese Leute für die Hälfte aller israelischen Exporte verantwortlich.»
Der israelische Demografieforscher weist darauf hin, dass nur 0,6 Prozent aller erwachsenen Israeli Mediziner sind und nur 0,2 Prozent an den Forschungseinrichtungen des Landes arbeiten – dort, wo die neuen Hightech-Spezialisten ausgebildet werden.
«Unterm Strich können wir sagen, dass in Israel zehn Millionen Menschen leben, aber die ökonomisch wichtigsten Gruppen nur rund 300 000 Menschen ausmachen», sagt Ben-David. «Für eine wirtschaftliche Katastrophe müssen also nicht eine Million das Land verlassen. Es reichen einige zehntausend.»
Israels Innenpolitik ist ein grösserer Faktor als der Krieg
Laut dem Forscher hat Israel bereits seit einigen Jahren das Problem, dass die am besten Ausgebildeten und damit auch mobilsten Israeli das Land verlassen. «Doch das Problem hat sich zugespitzt während des Justizputsches», sagt Ben-David, der die von der rechten Regierungskoalition unter Benjamin Netanyahu angestrebte Reform des obersten Gerichts als «Putsch» bezeichnet.
Während der Zeit der Proteste gegen die Justizreform haben 42 Prozent mehr Israeli das Land verlassen als in den dreizehn Jahren zuvor. Ben-David geht daher davon aus, dass die Menschen vor allem wegen des Lebensstandards und der innenpolitischen Situation Israel verlassen und weniger wegen des Kriegs. Für diese These sprechen auch die Bilder von Flughäfen aus aller Welt in den ersten Tagen nach dem Hamas-Massaker am 7. Oktober, als viele Israeli versuchten, noch einen Platz in einem Flugzeug zu ergattern, um in den Krieg für ihr Land zu ziehen.
«Viele Faktoren spielen eine Rolle», sagt Ben-David. Erstens wachse Israels Infrastruktur nicht im gleichen Tempo wie die Bevölkerung. Israeli müssen heute länger auf Arzttermine warten, es herrscht fast immer Stau auf den Strassen, die Wohnungspreise ziehen stark an. «Und ein anderer Grund ist die Regierung.»
Die Angst vor religiösen Fanatikern
Seit 2009 sind die ultraorthodoxen Parteien an jeder Regierung beteiligt. «Sie haben dazu beigetragen, dass immer mehr Geld an jene verteilt wird, die kaum arbeiten und nur schlecht ausgebildet werden», sagt Ben-David. Das Resultat ist: höhere Steuern für weniger Sozialleistungen. Ultraorthodoxe Frauen bekommen deutlich mehr Kinder als säkulare Jüdinnen. Die Bevölkerungsgruppe der Ultraorthodoxen steigt in Israel damit besonders stark an.
«Und die demografische Entwicklung ist klar: Bald könnte es unmöglich sein, die nötigen Stimmen im Parlament zu mobilisieren, um diesen Trend umzudrehen.» Viele Israeli befürchten zudem, dass mit einer Schwächung des obersten Gerichts kleinen Gruppen wie der extremen Rechten sowie den Haredim noch weniger Grenzen gesetzt werden.
«Ich glaube nicht, dass die Israeli heutzutage immer noch besorgt darüber sind, dass externe Feinde es tatsächlich schaffen, sie auszulöschen», sagt Ben-David. «Ich glaube, was die Leute heute aus dem Land treibt, sind die religiösen Fanatiker.»
Am Ende war es auch nicht der Krieg, sondern die Innenpolitik, die Din aus Israel vertrieben hat. Erst knapp ein Jahr nach Kriegsbeginn verliess er Jerusalem. Deutschland war für ihn und seine Freundin nur eine Zwischenstation. Heute leben sie in Amsterdam, wo der junge Israeli im Startup seines Bruders arbeitet. In Israel wollte dieser sein Unternehmen nicht gründen.