Samstag, Januar 18

Die prozyklische Fiskalpolitik Brasiliens vergrault die Investoren. Aktien, Anleihen und auch der Real mussten 2024 kräftig Federn lassen – das eröffnet Chancen.

Brasiliens Konjunktur läuft rund: Im soeben zu Ende gegangenen Jahr dürfte Lateinamerikas grösste Volkswirtschaft real um rund 3,5% gewachsen sein, die Arbeitslosigkeit hat weiter abgenommen und verharrt nur noch knapp über dem Rekordtief, während die Reallöhne kräftig steigen. Im Aussenhandel hat Brasilien derweil einen Handelsüberschuss von 74,6 Mrd. Real (ca. 11,25 Mrd. Fr.) erzielt, was dem zweithöchsten Wert überhaupt entspricht.

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Die positiven Signale aus der Wirtschaft kontrastieren allerdings deutlich mit dem Verdikt der Finanzmärkte. Denn für Anleger in brasilianische Vermögenswerte war 2024 ein Jahr zum Vergessen: Ob Währung, Anleihen oder Aktien, sie alle mussten Federn lassen – und das in einem global betrachtet durchaus günstigen Umfeld.

Skeptische Finanzmärkte

Der MSCI Brazil in Lokalwährung sackte um schmerzhafte 16,9% ab, während etwa der Weltaktienindex von MSCI (MSCI AC World) im vergangenen Jahr fast 16% nach oben kletterte und auch der Schwellenländerindex immerhin rund 5% höher schloss (beide Indizes in Dollar). Da sich aber auch der Real 2024 markant abgeschwächt hat, erreicht der Verlust in Dollar verheerende 34,6%.

Der Absturz des Reals war eindrücklich: Kostete der Dollar im Dezember 2023 noch rund 4.85 Real, waren es ein Jahr später bereits 6.18. Auch gegenüber dem Franken büsste die brasilianische Valuta markant an Wert ein. Unter den Schwellenländerwährungen bildete sie das unrühmliche Schlusslicht.

Nicht einmal die klassische Absicherung mit der Portfoliobeimischung von Staatsanleihen funktionierte. Gemessen am Bank of America Government Bond Index haben brasilianische Staatsanleihen 2024 nämlich ebenfalls mehr als 20% an Wert eingebüsst (in Dollar). Was steckt hinter diesem Misstrauensvotum der Finanzmärkte?

Fiskalpolitik gemäss dem Motto «Spend, baby, spend!»

Der Hauptgrund ist die ausgabenfreudige Politik unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der seit 2023 erneut im Amt ist. Zuvor war er bereits von 2003 bis 2010 das Staatsoberhaupt Brasiliens, wurde dann aber der Korruption beschuldigt. Er verbüsste eine Haftstrafe wegen Bestechung, bevor seine Verurteilung Anfang 2021 vom Obersten Gerichtshof aus formalen Gründen aufgehoben wurde, was ihm die Rückkehr in die Politik ermöglichte.

Lula steht der Marktwirtschaft skeptisch gegenüber und nimmt regelmässig Einfluss auf unternehmerische Belange, so übte er Druck aus, bis der CEO des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras Jean Paul Prates im Mai den Hut nehmen musste, und inszeniert sich auf der Weltbühne gerne als Kämpfer für die Armen.

Von Budgetdisziplin hält er wenig. Trotz der robusten Konjunktur wurden die Staatsausgaben in den vergangenen Monaten ausgeweitet, was unter den Marktteilnehmern Besorgnis über die wachsenden Schulden weckte. Brasiliens Staatsverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung erreicht derzeit für ein Schwellenland hohe 88%. Und das bei einem bereits erhöhten Anteil an Staatseinnahmen relativ zum Bruttoinlandprodukt (BIP) von nahezu 40%. Mit anderen Worten, auf der Einnahmenseite (sprich: bei den Steuern) ist das Potenzial nach oben langsam ausgereizt. Dennoch zeigt die Regierung nur geringen Sparwillen.

Seit Lulas Amtsantritt 2023 hat sich das Budgetdefizit von rund 4,6% auf mittlerweile 9,2% verdoppelt (blaue Linie). Zum Vergleich: Das europäische Sorgenkind Frankreich erreichte 2024 ein Defizit von ungefähr 6%. «Der politische Wille, Sparmassnahmen durchzusetzen, ist einfach nicht vorhanden, weder auf der Ebene des Präsidenten noch im Kongress», lautet das Verdikt des Ökonomen Jason Tuvey vom Analysehaus Capital Economics.

Frappant ist der Vergleich mit Argentinien: Dem Land ist es unter dem neuen Präsidenten Javier Milei gelungen, innerhalb von weniger als einem Jahr ein primäres Haushaltsdefizit von 1,8% des BIP in einen Überschuss von 1,5% zu verwandeln. Die brasilianische Regierung vermochte sich noch nicht einmal zu einem ausgeglichenen Primärhaushalt (Budget ohne Zinszahlungen) durchzuringen.

Ohne Gegensteuer bei den Ausgaben wird der Schuldenberg nach Angaben des Internationalen Währungsfonds in den kommenden Jahren weiter wachsen.

Zaghafte Sparmassnahmen

Zwar hat die Regierung im November gewisse Austeritätsmassnahmen beschlossen. So wurde unter anderem die Erhöhung des Mindestlohns abgeschwächt, ein Mindestrentenalter für Militärangehörige sowie eine Deckelung der Löhne im öffentlichen Sektor eingeführt. Zudem wurden die Steuern für Besserverdiener erhöht und der Zugang zu gewissen Sozialleistungen erschwert. Diese Massnahmen sollten in den kommenden zwei Jahren zu Einsparungen von rund 70 Mrd. Real oder 0,3% des BIP führen, über fünf Jahre sollen es 330 Mrd. Real sein.

Vielen Beobachtern gingen die Schritte angesichts der ungemütlichen Ausgangslage zu wenig weit, vor allem blieben wichtige strukturelle Reformen aus. Ein grosses Problem sind zum Beispiel an Inflation und Wachstum geknüpfte Staatsausgaben. So schreibt etwa die brasilianische Verfassung vor, dass die Regierung 18 bzw. 15% ihrer jährlichen Nettoeinnahmen für Bildung und Gesundheit ausgeben muss. Gemäss Verfassung müssen die Rentenzahlungen ebenfalls mindestens mit dem Mindestlohn wachsen. Höhere Staatseinnahmen führen damit unweigerlich zu höheren Ausgaben.

Nicht nur die Privatwirtschaft und ein ausgeglichenes Budget sind Lula ein Dorn im Auge. Auch in Richtung der Notenbank und der seiner Meinung nach «zu hohen» Leitzinsen schiesst er regelmässig Salven, was Besorgnis unter den Marktteilnehmern geschürt hat, die Unabhängigkeit der Banco Central do Brasil sei in Gefahr.

Die Notenbank muss die Kohlen aus dem Feuer holen

Die Währungshüter liessen sich von der Politik bislang nicht beeindrucken. Im Gegenteil: Wegen der wenig erbaulichen Mischung aus wachsenden Staatsausgaben und engem Arbeitsmarkt sah sich die Notenbank gezwungen, entgegen dem globalen Trend zur Jahresmitte einen neuen Zinserhöhungszyklus einzuleiten. Lockerte sie die Geldpolitik zum Jahresbeginn noch, hob sie die Leitzinsen (Selic) ab September 2024 in drei Schritten um 1,75 Prozentpunkte auf 12,25% an.

Im Markt ist man sich einig, die Straffung der Geldpolitik werde sich unter dem neuen Notenbankvorsitzenden Gabriel Galípolo fortsetzen. Ökonom Tuvey von Capital Economics prognostiziert zwei weitere Zinsschritte à je 100 Basispunkte auf 14,25%. Elizabeth Johnson und Wilson Ferrarezi vom Londoner Analysehaus TS Lombard rechnen damit, dass der Selic-Satz sogar mindestens 15% erreichen wird.

Die nächste Anhebung dürfte bereits am 29. Januar folgen. Behält der Marktkonsens recht, wird der Realzins mit der derzeitigen Inflation von rund 5% in den kommenden Monaten sehr hohe 9 bis 10% erreichen. Das dürfte früher oder später die Konjunktur belasten.

Um dem Kursverfall des Reals entgegenzuwirken, musste die Banco Central do Brasil Ende Dezember kräftig an den Devisenmärkten intervenieren, wobei sie rund 20 Mrd. $ oder gegen 6% ihrer gesamten Reserven verkaufte. Gemäss den Ökonomen von Capital Economics handelte es sich dabei um eine der umfassendsten Interventionen in der jüngeren Geschichte der brasilianischen Zentralbank. Das war notwendig, denn allein im Dezember sind umgerechnet 26,4 Mrd. $ netto an Kapital ins Ausland abgeflossen.

Grafik: Die Banco Central do Brasil stützt den Real

Der schwache Real stellt ein Problem dar, weil dadurch die Importe verteuert werden, wodurch der Teuerungsdruck im Land zunimmt. Das ist weder im Interesse der Notenbank noch der Politik, ist der amtierende Präsident doch vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten beliebt, die besonders unter der Inflation leiden.

Was ist eingepreist?

Allerdings stellt sich die Frage, ob der Real nach einem derartigen Einbruch noch weiter fallen wird. Auf dem derzeitigen Niveau sei die Währung attraktiv bewertet, konstatieren die Strategen vom Hongkonger Researchanbieter Gavekal. Und tatsächlich verrät ein Blick auf den realen, effektiven Wechselkurs, dass er in den vergangenen 25 Jahren nur selten günstiger bewertet war.

Der Ökonom Kamakshya Trivedi von Goldman Sachs ist ebenfalls der Ansicht, die Währung biete mittlerweile eine «bedeutende Risikoprämie».

Der oben erwähnte hohe Realzins – also der nominale Zins nach Abzug der Inflation – von 9 bis 10% dürfte in den kommenden Monaten für Unterstützung sorgen, sofern Brasília nicht nochmals mit neuen Ausgaben oder weiteren Eingriffen in die Privatwirtschaft negativ überrascht.

Beruhigt sich die Lage, dürften sich die Zinsen langsam normalisieren, was auch den Aktienmarkt beflügeln dürfte. Die Bewertung ist jedenfalls ausgesprochen günstig. So erreicht die erwartete Dividendenrendite auf die im MSCI Brazil enthaltenen Unternehmen derzeit rund 7%, das vorwärtsgerichtete Kurs-Gewinn-Verhältnis beläuft sich auf niedrige 7,2.

Dieser positive Befund wird in der regelmässig von The Market ermittelten Bewertungsübersicht bestätigt. So erreicht der Bewertungsscore für die brasilianische Börse – er umfasst die Dividendenrendite, das Shiller-Kurs-Gewinn-, das Kurs-Buchwert-, das Kurs-Umsatz- sowie das vorwärtsgerichtete Kurs-Gewinn-Verhältnis – ungewöhnlich niedrige 16.

Angesichts des gewaltigen Pessimismus, der brasilianischen Vermögenswerten entgegenschlägt, dürften bereits leicht bessere Nachrichten zu einer Erholungsrally führen. Sollte China etwa doch noch mit überzeugenden Stimulusmassnahmen aufwarten oder der in den vergangenen Wochen beobachtete Anstieg der Energiepreise sich fortsetzen und/oder die Dollarstärke nachlassen, könnte sich das Umfeld für brasilianische Vermögenswerte aufhellen. Die gedrückte Bewertung der verschiedenen Vermögensklassen stimmt jedenfalls zuversichtlich.

Im Oktober 2026 stehen zudem Präsidentschaftswahlen an, weshalb sich die Märkte bereits gegen Herbst mit der Nachfolge des 79-jährigen, gesundheitlich angeschlagenen Präsidenten beschäftigen werden. Die Aussicht auf eine marktfreundlichere Regierung könnte ebenfalls Impulse geben.

Die Hürde für positive Überraschungen ist niedrig.

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