Montag, November 18

Brasilien empfängt am G-20-Gipfel gerade die wichtigsten Wirtschaftsnationen. Gleichzeitig versucht das Land, seine Rolle zwischen den Fronten der Weltpolitik anzupassen. Das ist eine Chance für Europa.

Die brasilianische Diplomatie steht in diesen Tagen vor grossen Herausforderungen: Im Wochenrhythmus finden mehrere internationale Treffen statt, bei denen Brasilien deutlich machen muss, welche Position es in der Weltpolitik und damit auch in der Weltwirtschaft anstrebt.

Die Veranstaltungen sind hochkarätig besetzt: Den Auftakt machte vor einem Monat der Brics+-Gipfel in Russland, das erste Treffen nach der Erweiterung des Staatenbundes. Das gerade zu Ende gegangene Apec-Forum der amerikanischen und asiatischen Pazifikanrainer in Peru ist wichtig für die künftige Anbindung Brasiliens an Südamerika und den asiatischen Markt. Heute und morgen ist Brasilien Gastgeber des G-20-Gipfels in Rio de Janeiro. Unmittelbar danach besucht der chinesische Staatschef Xi Jinping Brasilien anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums der brasilianisch-chinesischen Beziehungen.

Auch bei den Blockfreien war Brasilien nur Beobachter

Die brasilianische Regierung unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva nutzt diese Anlässe, um ihre geopolitische Neutralität zu demonstrieren, vergleichbar mit der Rolle eines blockfreien Staates. Dies entspricht dem traditionellen diplomatischen Selbstverständnis Brasiliens: mit allen reden, aber keinem Block angehören. Konsequenterweise war Brasilien auch nie Mitglied der Blockfreienbewegung, sondern hatte dort nur Beobachterstatus.

Angesichts der sich verschärfenden weltpolitischen Konfrontationen ist Neutralität ein schwieriges Unterfangen: Denn Brasilien wird all jene enttäuschen, die eine deutliche Parteinahme für das eigene Lager erwarten.

Das ist seit dem Amtsantritt von Präsident Lula vor knapp zwei Jahren bereits mehrfach geschehen.

So hat Präsident Lula mit seiner Parteinahme für Russland, Venezuela und Palästina Sympathien in den USA und Europa verspielt. Der von Brasilien und China gemeinsam vorgelegte «Friedensplan» für die Ukraine, der vor allem russische Interessen berücksichtigt, verstärkte die Zweifel im demokratischen Westen.

Brasilien justiert sein Verhältnis zu China und Venezuela

Allerdings ist Brasilien in den vergangenen Wochen von dieser Position etwas abgerückt: Präsident Lula und Regierungsvertreter äusserten erstmals vorsichtige Kritik an den Diktaturen in Venezuela und Nicaragua, die Brasilien bis vor kurzem noch unterstützt hatte. Caracas reagierte mit Beschimpfungen – was Lula politisch durchaus in die Hände spielte. Aber es zeigt, wie empfindlich politische Verbündete reagieren, wenn Brasilien auf Distanz geht.

Umgekehrt wehrt sich Brasilien gegen die intensiven Umarmungsversuche Chinas. Peking drängt Brasilien seit langem, ein Seidenstrassen-Abkommen zu unterzeichnen, um chinesischen Investoren besseren Zugang zu verschaffen.

Doch Celso Amorim, Lulas aussenpolitischer Berater, erteilte diesem Ansinnen nun eine deutliche Absage. Brasilia will neben Investitionen in die eigene Industrie vor allem Technologietransfer, Marktzugang in China und verlässliche Investitionszusagen. Solche Zugeständnisse hat China bisher nicht angeboten oder zwar angekündigt, aber nicht eingehalten.

Kann Lula seine Distanz gegenüber China aufrechterhalten?

Brasilien kann sich die Zurückhaltung gegenüber China leisten, denn Brasilia verhandelt mit Peking aus einer Position der Stärke: China ist zwar Brasiliens grösster Handelspartner. Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten hat Brasilien aber einen hohen Überschuss in der Handelsbilanz mit China. Zudem könnte Peking angesichts der zunehmenden Konfrontation mit den USA bald noch stärker auf Nahrungsmittel- und Ölimporte aus Brasilien angewiesen sein.

Es ist aber ebenso möglich, dass Präsident Lula aufgrund des Widerstands seiner Partei und der Linken in Brasilien gegenüber China und Russland Partei ergreifen wird. Wer die Ex-Präsidentin Dilma Rousseff am Brics-Gipfel in Russland mit Wladimir Putin und Xi Jinping scherzen sah, fragt sich, ob sich die Regierung Lula im ideologischen, «antiimperialistischen» Lager letztlich nicht viel wohler fühlt als im demokratischen Westen.

Rousseff ist Präsidentin der Neuen Entwicklungsbank der Brics-Staaten. Ihr deutlich antiwestlicher Kurs ist in der Arbeiterpartei, aber auch in weiten Teilen der brasilianischen Linken populär.

Der politische Pragmatiker Lula scheint jedoch erkannt zu haben, dass ihn die Nähe zu Diktaturen wie Venezuela oder Kuba Stimmen der bürgerlichen Mitte kostet. Seine Arbeiterpartei und die Linke insgesamt haben gerade bei den Kommunalwahlen empfindliche Stimmenverluste hinnehmen müssen. So lässt sich auch die Kehrtwende gegenüber Maduro in Venezuela und Ortega in Nicaragua interpretieren.

Trump betrachtet Brasilien unter Lula nicht als Partner

Inwieweit es Brasilien in Zukunft gelingen wird, weltpolitisch neutral zu bleiben, entscheidet sich nicht nur in Brasilia, sondern auch mit der politischen Entwicklung etwa in Washington und Peking in den nächsten Jahren.

Mit der erwarteten Ernennung von Marco Rubio zum Aussenminister unter Präsident Trump kommt ein Lateinamerika-Experte ins Amt, der die Region immer deutlich in ein Freund-Feind-Schema eingeteilt hat. Rubio, der kubanische Wurzeln hat, betrachtet Brasilien unter Lula nicht als loyalen Partner Washingtons.

Dennoch sind die USA auf eine funktionierende Kooperation mit Brasilien angewiesen. Zum einen angesichts des chinesischen Drängens Richtung Kontinent. Zum anderen bei der Vermittlung in regionalen Krisen wie in Venezuela.

Brasiliens Streben nach Neutralität ergibt aus weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Sicht Sinn: Denn Brasiliens demonstrative Neutralität wird wichtig, wenn sich das Kräftemessen zwischen neuen und alten Grossmächten verschärft. Brasilien will und muss durch seine Integration in die Weltwirtschaft als Exporteur weiterhin mit der ganzen Welt Handel treiben – aber auch im Gespräch bleiben.

Europa und der Mercosur sollten enger zusammengehen

Brasiliens Streben nach Äquidistanz zu den neuen und alten Machtblöcken kann eine Chance sein für andere geopolitische Akteure. So etwa für Europa, und das aus mehreren Gründen.

Erstens könnte sich Brasiliens Neutralität angesichts der geopolitischen Verschiebungen als positiver Standortfaktor erweisen. Europäische Unternehmen sollten dies bei der Reorganisation ihrer Wertschöpfungsketten berücksichtigen. Das Stichwort lautet «Nearshoring», also die Reorganisation globaler Lieferketten durch Verlagerung von Zulieferern an befreundete oder neutrale Standorte.

Zweitens wird Brasilien als Exporteur in der Weltwirtschaft wichtiger: Das Land wird als Produzent und globaler Lieferant von Nahrungsmitteln, Industrierohstoffen – auch gerade der für die Energiewende wichtigen Materialien – sowie von konventioneller und nachhaltiger Energie an Bedeutung gewinnen.

Und drittens: Brasilien ist wie die sechs wirtschaftlich bedeutendsten Staaten Südamerikas eine Demokratie. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies ändern sollte. Der Kontinent hat nach Europa und Nordamerika die höchste Demokratiedichte der Welt.

Vor diesem Hintergrund wäre der Abschluss eines Abkommens zwischen der EU und der Efta mit der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur umso wichtiger, da es für beide Seiten eine Win-win-Situation darstellen würde. Beide Regionen würden ihr geopolitisches Gewicht durch die Schaffung der grössten Wirtschaftsgemeinschaft der Welt deutlich erhöhen. Dies sollte sowohl im Interesse Südamerikas als auch Europas sein.

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