Freitag, September 20

Die Bundesregierung hat im Juli weitere Ausgaben für den Ersatz von an die Ukraine abgegebener Ausrüstung gestoppt. Dabei hatte sie versichert, alle Waffen schnellstens zu ersetzen. Die Opposition spricht von Betrug.

Im Januar vorigen Jahres, er war erst ein paar Tage im Amt, trat Boris Pistorius auf einem Übungsplatz vor die Presse. Ja, die Bundeswehr habe in den vergangenen Jahren «ordentlich Ausrüstungsdefizite angehäuft», sagte der neue Verteidigungsminister. Nun aber kämen weitere hinzu, weil die deutschen Streitkräfte zusätzliche Waffen an die Ukraine abgeben müssten. Damals ging es unter anderem um Leopard-2A6-Kampfpanzer und Marder-Schützenpanzer.

Dann sagte Pistorius den Satz, den die um ihre Einsatzbereitschaft besorgte Truppe von ihm hören wollte: «Wir tun jetzt alles, damit schnell wiederbeschafft wird.» Damit versprach der «oberste Dienstgeber», dass die an die Ukraine abgegebenen Waffen innerhalb kürzester Zeit ersetzt werden. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz und andere Kabinettsmitglieder haben diese Aussage wiederholt getroffen.

Heute muss das in den Ohren der Soldaten wie Hohn klingen. Im Juli hat die Bundesregierung die Wiederbeschaffung der Ukraine-Waffen aus finanziellen Gründen gestoppt. Der Grund: In diesem Jahr ist dafür offenbar kein Geld mehr da. Das Verteidigungsministerium und die Bundesregierung haben darüber bislang kaum ein Wort verloren. Bekannt wurde der Finanzierungsstopp, weil «Bild» und der Fachinformationsdienst «Griephan» vor kurzem aus einem entsprechenden Vermerk des Verteidigungsministeriums von Mitte August berichteten. Das Dokument liegt der NZZ in Auszügen vor.

Schwächung der deutschen Luftverteidigung

Gmäss diesen Informationen müssten bereits erteilte Finanzierungszusagen für geplante Einkäufe widerrufen werden. Andere würden nicht mehr erteilt. Das Brisante ist, dass es sich nicht um einstweilen entbehrliche Ausrüstung handelt, etwa Lastwagen oder Winterbekleidung. Vielmehr geht es etwa um Waffen, die für die Luftverteidigung Deutschlands von essenzieller Bedeutung sind: mehr als 100 PAC-3-Lenkflugkörper für das Patriot-System und mehr als 200 Lenkflugkörper für das Iris-T-System im Wert von zusammen mehr als einer Milliarde Euro.

Russland baut seit Jahren Raketen und Marschflugkörper an seiner Westgrenze auf, die nuklear bestückt werden können und Richtung Mittel- und Westeuropa ausgerichtet sind. Patriot und Iris-T, das beweisen sie in der Ukraine, sind in der Lage, diese Waffen zumindest teilweise abzufangen. Wie viele dieser Lenkflugkörper die Bundeswehr noch in ihren Depots hat, ist geheim.

Das sind allerdings nicht alle Konsequenzen des nun offenbar von der rot-grün-gelben Regierung verhängten Finanzierungsstopps. Neben der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr ist auch die Kampfkraft der ukrainischen Armee betroffen. Seit Jahren setzt sie beispielsweise erfolgreich die Panzerhaubitze 2000 in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland ein.

Nicht nur diese Geschütze, sondern auch ihre Ersatzteile stammen teilweise von der Bundeswehr. Weil der Verschleiss der Haubitzen hoch ist, benötigen die Ukrainer viele Ersatzteile. Wenn nun kein Geld mehr dafür vorhanden ist, kann die Bundeswehr keine Ersatzteile mehr aus ihren Beständen an die Ukraine geben. Das würde sonst die eigene Einsatzbereitschaft noch mehr gefährden.

Ukraine-Hilfe für 2025 bereits verplant

Für das kommende Jahr sieht es nicht besser aus. Derzeit berät der Bundestag den von der Regierung vorgelegten Haushaltsentwurf. Darin sind unter anderem 4 Milliarden Euro an Militärhilfe für die Ukraine vorgesehen, eine Halbierung im Vergleich zu diesem Jahr. Von diesem Geld müssen auch die Ukraine-Waffen der Bundeswehr wieder beschafft werden. Doch wie es aussieht, wird das auch im nächsten Jahr nichts.

Der Grund ist, dass die 4 Milliarden Euro bereits in konkreten Aufträgen vertraglich gebunden sind. Das heisst, das Geld ist verplant und im Prinzip schon ausgegeben. Wie es heisst, muss deshalb die Wiederbeschaffung von 23 Bergepanzern (700 Millionen Euro) und von Geschossen für das Raketenartilleriesystem Mars II (120 Millionen) gestrichen werden.

In dem Vermerk heisst es in bürokratischem Deutsch, «bei dieser nachträglichen Versagung der Finanzierung der Wiederbeschaffungen handelt es sich um eine Änderung der Spielregeln nach Spielbeginn». Das Ministerium habe die sorgfältigen Abwägungen zur Abgabe von Waffen an die Ukraine stets im Vertrauen auf die Finanzierung der Wiederbeschaffungen vorgenommen.

Opposition: Koalition wird nichts mehr ändern

Die NZZ wollte vom Verteidigungsministerium wissen, ob die Angaben aus dem Vermerk sowie die Medienberichte stimmen. Die Antwort war ausweichend. «Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir aus laufenden Abstimmungen und vorab einer parlamentarischen Befassung nicht berichten können», teilte ein Sprecher mit.

Die Parlamentarier könnten den Regierungsentwurf noch ändern. Sie haben das letzte Wort beim Haushalt. Ingo Gädechens, Haushaltsfachmann der oppositionellen Union, glaubt jedoch nicht daran. «Die Koalition hat dafür nicht mehr die Kraft», sagt er und beklagt das Vorgehen der Regierung: «Was die ‹Ampel› mit unseren Soldaten macht, ist nicht mehr akzeptabel.»

Für Gädechens ist die Entscheidung der Regierung, den Neukauf abgegebener Waffen zu streichen, ein «Ampelbetrug an der Bundeswehr». Für die deutschen Streitkräfte ist das indes nicht die einzige Hiobsbotschaft der vergangenen Wochen. Die Haushaltspläne der Koalition lassen generell befürchten, dass Kanzler Scholz und sein Kabinett die Zeitenwende und damit die langfristig finanzierbare Modernisierung der Bundeswehr zu den Akten gelegt haben.

Rüstungsindustrie fordert höheren Wehretat

Darauf liess jüngst auch ein Bericht des Kieler Instituts für Weltwirtschaft schliessen. Die Autoren kommen zu dem Befund, dass Deutschland beim derzeitigen Tempo der militärischen Beschaffung bis zu hundert Jahre brauche, um den Bestand an Waffen wieder zu erreichen, über den die Streitkräfte vor zwanzig Jahren verfügten. Alles dauere zu lange, und es gebe zu wenig Geld. Während Russland die Waffenproduktion massiv steigere, komme die Modernisierung der Bundeswehr kaum voran.

Diesem für die Bundesregierung unerfreulichen Befund setzt die deutsche Rüstungsindustrie nun noch einen drauf. In einer Stellungnahme fordert sie von der Koalition eine sofortige signifikante Erhöhung des Wehretats. Das wäre «ein wichtiges Signal» an die Industrie, dass sie nach allen schon erfolgten Kapazitätserhöhungen ihre Ressourcen noch weiter aufbauen könne. Soll heissen: Erst wenn der Militärhaushalt deutlich und langfristig wächst, werden die Waffen- und Munitionshersteller in der Grössenordnung investieren, dass die Bundeswehr schneller als bisher modernisiert werden kann.

Diese Ansage ist bemerkenswert. In den vergangenen Monaten hatte es wiederholt Ereignisse gegeben, bei denen Rüstungs- und Regierungsvertreter den Eindruck erweckten, sie würden an einem Strang ziehen. So waren Kanzler Scholz und Verteidigungsminister Pistorius gemeinsam bei der Grundsteinlegung für eine Munitionsfabrik oder bei der Übergabe eines Iris-T-Flugabwehrsystems.

Nun aber heisst es aus der Rüstungsbranche ungewöhnlich deutlich, mit «wohlklingenden Versprechen der Politik allein» könne ein Kapazitätsaufbau nicht gelingen.

Exit mobile version