Geschichte eines versuchten Befreiungsschlags.
Das Boxen, sagt Ruslan Zadiev, ist ein Kampf. Kein Kampf gegen den Gegner, sondern gegen dich selbst. Gegen deine Angst, deine Wut, deine Müdigkeit.
«Draufschlagen kann jeder», sagt Zadiev, Boxtrainer von Beruf, und blickt hinüber in den Ring zu seinem Schützling Brian Keller. «Aber gewinnen nicht.» Boxen möge zwar aussehen wie eine Schlägerei, in Wahrheit sei es aber etwas ganz anderes: ein Schachspiel.
Auf Zadievs breitem, kahlen Schädel glänzen Schweissperlen. Er hält eine Schwimmnudel in der Hand. Damit tippt er Keller immer wieder kurz auf Schultern, Kopf, Bauch. Es ist ein Ausweichtraining: Deckung, Schritt, Gerade, Haken.
«Los, los, los», ruft der Trainer. «Schneller, du musst schneller sein.»
Es ist ein Mittwochmorgen im April, Training im David Gym in der Agglo-Gemeinde Schlieren. Signierte Fotos von braungebrannten Bodybuildern an den Wänden, die Statue eines nackten griechischen Gottes im Gang. Männer mit Armen wie Lammkeulen und Beinen wie gerupfte Truthähne laufen zu den Trainingsgeräten, die neben dem Boxring stehen.
Sie nicken Keller zu und wünschen ihm Glück. Glück für seinen grossen Kampf.
Der Kampf. Es ist Brian Kellers erster als Boxer. Am Samstag findet er statt.
Der Match soll Kellers grosser Befreiungsschlag werden. Vom berüchtigtsten Gefängnisinsassen des Landes will er zum gefeierten Box-Star werden. Gelingt die Verwandlung, es wäre für ihn der grösste Sieg seines Lebens. Ein Sieg gegen die eigene Geschichte – und gegen all jene, die für ihn nur einen Platz im Leben sehen: den in einer Gefängniszelle.
Auch dort könnte Keller, auf den noch mehrere Gerichtsprozesse warten, immer noch landen.
Der Kampf gegen die Behörden
Brian Keller, einst der bekannteste Häftling der Schweiz, ist seit einem halben Jahr auf freiem Fuss. Und sein neuster Kampf – er ist auch einer gegen das eigene Image. Davor war sein Leben von einem anderen Kampf geprägt: dem gegen die Zürcher Justizbehörden.
Mit zehn wird Keller das erste Mal verhaftet, als man ihn fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt. Mit zwölf wird er das erste Mal in ein Gefängnis für erwachsene Straftäter gesteckt. Mit 15 kommt er nach einem brutalen Messerangriff in Einzelhaft. Seinen 16. Geburtstag verbringt er zwangsfixiert in der Psychiatrie. Danach kommt er in ein Sondersetting der Jugendstaatsanwaltschaft, wo er seine Aggressionen mit Boxtraining in den Griff bekommen soll.
Er macht Fortschritte, dann kommt das Schweizer Fernsehen vorbei. Als «Carlos» wird Keller 2013 national bekannt. Das Sondersetting – medial skandalisiert mit Schlagzeilen wie «Sozial-Wahn um Messerstecher» oder «Behörden-Wahnsinn» – beenden die Behörden kurze Zeit später.
Bei jugendlichen Straftätern ist das Rückfallrisiko in der Schweiz tiefer als bei Erwachsenen. Rund ein Drittel der männlichen Teenager begehen als junge Erwachsene wieder ein Delikt, bei den Frauen sind es deutlich weniger.
2016, als 20-jähriger, kommt auch Keller wieder ins Gefängnis – für fast acht Jahre. Eineinhalb davon verbüsst er, weil er einem Kontrahenten mit einem Faustschlag den Kiefer gebrochen hat. Den Rest der Zeit verbringt er ohne rechtskräftiges Urteil hinter Gittern – angeklagt wegen ständiger Auseinandersetzungen mit Aufsehern der Justizvollzugsanstalten.
Die Gewaltspirale dreht, insgesamt dreieinhalb Jahre verbringt Keller in Einzelhaft. Dort darf er für eine Stunde am Tag in einen vergitterten Innenhof. Den Rest der Zeit ist er in der Zelle, mit den Aufsehern als einzigem Kontakt. Zeitweise gibt es ausser der Anwaltspost und dem Koran nichts zu lesen.
Dann, im November 2023, kommt die Wendung. Und zwar ausgerechnet mit einem Schuldspruch.
Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilt ihn wegen Tätlichkeiten gegen Gefängnispersonal. Es befindet aber auch: Seine Strafe hat Keller längst abgesessen, es droht Überhaft. Und: Seine Haftbedingungen seien zum Teil unmenschlich gewesen. Etwas, das auch die nationale Anti-Folter-Kommission mehrfach gerügt hatte.
Wieder in Freiheit beginnt der erste Versuch einer Neuerfindung. Auf Tiktok und Instagram postet Keller Bilder und Videos – von sich, seinen Muskeln, seinem Training. Er taucht ein in die Welt der sogenannten «Crimefluencer» – Nutzer, die mit echten oder angeblichen Straftaten um Aufmerksamkeit buhlen.
Die Karriere als Influencer dauert allerdings nur kurz. Mit einem Tiktoker und verurteilten Straftäter, der sich «Skorp808» nennt, liefert sich Keller eine Fehde. Beleidigungen, verwackelte Videos mit Messern und Drohungen. Und Hunderttausende von Klicks.
«Ich will seinen Kopf – für das bin ich bereit, alles da draussen aufzugeben», sagt Keller in einem Video. In der Hand hält er eine pinkfarbene Büste seines eigenen Kopfes. «Ich will sehen, wie er leidet.»
Dann schlägt Keller seinen Kontrahenten nieder, wird verhaftet und landet in Untersuchungshaft. Schon wieder. Das alte Bild von Keller – es scheint sich zu bestätigen. Die erste Neuerfindung scheitert.
Doch dann, im vergangenen Oktober, kommt Keller wieder frei. Und beginnt ernsthaft mit dem Boxtraining.
Der Kampf gegen das Image
Aus der Lautsprecher-Box dröhnt Gangsta-Rap. Der deutsche Rapper Samra reimt: «Ich entkomme sowieso, Baba – Ja, die Uhren und die Ketten sind gestohlen, aber – Glaub mir, dieses hohe Risiko hat sich gelohnt, Baba, ah.»
Brian Keller hat die Oberarme gespannt, die Oberschenkel, den Rücken. Pralle Muskeln, täglich trainiert, kurz vor dem Bersten. Dann schlägt er zu, mit voller Wucht. Und stoppt, kurz vor dem Gesicht, dem Bauch, der Flanke seines Trainers.
Als sein Trainer Pause macht, hält er einen kleinen gelben Tennisball in der Hand. Er wirft, lässt ihn vom Boden abprallen, tänzelt um ihn herum, schlägt ihn mit der flachen Hand immer wieder sanft nach unten.
Sein Gesicht ist konzentriert. Seine Kraft zu kontrollieren, zu dosieren, sie in gesunde Bahnen zu lenken: Das sei für ihn das schwierigste, sagt sein Trainer. Wenn er es weit bringen wolle, müsse er hart an sich arbeiten.
Brian Keller hat zwei Vorbilder: Mike Tyson und Muhammad Ali. Vor allem Ali. Der Boxer, der zur Ikone der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurde, sei stark gewesen, und politisch. «Er ist eine Legende», sagt Keller. «Noch 50 Jahre später hat ihn niemand vergessen.»
Sein Stil sei eher nicht der seine: zu tänzerisch, zu verspielt. Charakterlich aber sei ihm Ali ein Beispiel. «Alle wollten, dass er jemand anderes ist. Aber er tat, was er wollte.»
Muhammad Alis Autobiografie hat Keller im Gefängnis gelesen. Dort landete auch Ali, als er – unter anderem aus Protest gegen grassierenden Rassismus – den Wehrdienst verweigert hatte. Das habe ihn beeindruckt, sagt Keller. «Er hat viel gelitten. Fast so viel wie ich.»
Seine Besucher fragt Keller manchmal: «Habe ich mich seit dem Gefängnis verändert? Siehst du einen Unterschied?» Die Antwort, auf die er hofft, ist ein Ja.
Sein Start in die Freiheit sei schwierig gewesen, sagt er. Plötzlich, mit 29, hatte er auf einen Schlag all das, was für andere in seinem Alter normal ist: eine Wohnung, die er verlassen, Strassen, auf denen er sich frei bewegen, 24 Stunden, die er frei gestalten kann – und muss.
«Im Gefängnis ist alles strukturiert, jeder Schritt ist vorgegeben. Das essen wird gemacht, die Wäsche wird gemacht. Du bist nur am Hängen und am Überlegen», sagt Keller. «Wenn du dann rauskommst, ist alles neu, alles seltsam.»
Er habe zwar einen Sozialarbeiter, der ihm helfe. Wichtiger sei ihm aber seine Familie – und das Training. «Das Boxen hilft mir bei vielem. Frust, Wut, Schmerz – du kannst alles rauslassen.»
Seine zweite Neuerfindung als Profiboxer – mit fast 30, ohne jede Erfahrung – ist aber noch etwas anderes. Sie ist auch ein Kampf gegen das eigene Image.
Mit 17 wurde Keller zur öffentlichen Figur. Jahrelang stand ihm seine Bekanntheit im Weg – jeder neue Vorfall war sofort eine neue Schlagzeile. Nun soll daraus ein Vorteil werden.
Auftritt im Grillrestaurant
Zwei Wochen vor Kellers Box-Debüt. Pressekonferenz in einem Grillrestaurant. Es liegt in einem Winterthurer Industriegebäude. Rechts ein Tierfuttergeschäft, links ein Nagelstudio. Und gegenüber die Axa-Arena, wo der Kampf stattfinden soll.
Alle sind da – Kellers Gegner, der Mediensprecher des Events, ein Dutzend Pressevertreter, der Organisator. In der Küche brutzeln Cevapcici und Pommes. Bloss der Hauptakteur fehlt. Dann endlich taucht er auf. Blaues Shirt, Halskette, Lächeln im Gesicht. Eine halbe Stunde zu spät.
Keller nimmt an einem weiss gedeckten Tisch Platz. Neben ihm sitzt der Organisator des Kampfs, Mustaf Kicaj, genannt «Musti». «Ich will Brian eine Chance geben, er hat es verdient zu kämpfen», sagt er. «Es gibt sehr viele Leute, die ihn nicht einmal trainieren lassen wollten.»
Musti Kicaj weiss, wie man aus Kampfsport Spektakel und aus Spektakel Geld macht. Er ist mehrfacher Thaibox-Weltmeister, betreibt ein Trainingsstudio und organisiert regelmässig Kämpfe – wie die «Fight Night» in Winterthur, die er mit Kellers Auftritt bewerben kann. Es seien, so sagt es Kicaj, noch nie so viele Tickets im Vorverkauf weggegangen wie dieses Mal.
Dass der Kampf bei Box-Insidern als sportlich irrelevant gilt? Egal. Dass der Schweizer Dachverband Swiss Boxing signalisierte, Kellers Chancen auf eine Boxlizenz stünden nicht gut? Ebenfalls.
Dann ist da sein Gegner: Claude Wilfried, ein bisher in der Boxszene unbekannter Franzose. Interessierten wurde er in einem kostenpflichtigen Livestream präsentiert. Auch eine Gage erhält er – anders als Keller, dessen Entschädigung noch nicht feststeht.
Schon vor dem Kampf machen deshalb Manipulationsvorwürfe die Runde: Alles ein abgekartetes Spiel, Wilfried sei nur dazu da, Keller einen gelungenen Einstand als Boxer zu liefern. Vorwürfe, die der Veranstalter und die beiden Boxer vehement von sich weisen.
Wilfried selbst sagt nicht viel. Brian Keller? Kenne er nicht. Aber: «Ich habe keine Angst vor ihm.»
Keller selbst gibt den starken Mann. «Verlieren ist für mich keine Option», sagt er. «Ich bin schnell, ich bin beweglich, ich habe viel Kraft.»
Am Samstagabend treffen die beiden nun aufeinander. Wird es, wie Keller hofft, der Beginn eines Neuanfangs sein? Oder bloss eine weitere kuriose Episode im Leben eines Straftäters?
Niemand weiss es, auch Brian Keller nicht. Eines ist dagegen klar: Er wird an diesem Abend für einmal nicht der bekannteste Häftling des Landes sein, nicht der «Carlos» aus dem Sondersetting. Nicht das Sinnbild für die schwierige Resozialisierung jugendlicher Straftäter und auch nicht die Galionsfigur gegen unmenschliche Haftbedingungen.
Sondern bloss ein 29-jähriger Mann in einem Boxring, der am Ende entweder steht oder am Boden liegt, entweder gewinnt oder verliert. Und dessen Zukunft damit – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – komplett offen ist.