Mittwoch, Oktober 9

Der Initiativtext wirkt beim ersten Lesen zahm. Doch es hat einen Grund, dass Bundesrat und Parlament die Initiative ablehnen.

Thomas Baumann ist ein Vorzeigelandwirt in Sachen Biodiversität. Auf seinem Hof im aargauischen Suhr pflegt er üppige Hecken, in denen sich in den letzten Jahren seltene Vögel wie der Neuntöter und die Goldammer angesiedelt haben. Am Ufer der Suhre wühlen in einem schmalen Landstreifen drei Schweine. Sie haben dafür gesorgt, dass die bedrohte Kreuzkröte wieder einen Lebensraum gefunden hat.

Biodiversität bringt Geld

«Das ist kein Blüemli-Bauer-Zeug», sagt Baumann. Sein Hof habe einfach verschiedene wirtschaftliche Standbeine: Ziegenzucht und Käseproduktion, Gemüse- und Getreideanbau sowie Förderung der Biodiversität. Mit Letzterer ernte er zwar keine Lebensmittel, dafür aber Freude bei den Anwohnern und Spaziergängern. Und dieser Betriebszweig sei mindestens so einträglich wie die anderen – dank Förderbeiträgen. Zudem gefalle es ihm, die Landschaft nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

Unter den Schweizer Bauern ist Baumann eher die Ausnahme als die Regel. Zwar ist die Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten nachhaltiger geworden. Seit 1996 sind die Direktzahlungen des Bundes an einen ökologischen Leistungsnachweis geknüpft. 2016 folgte ein Aktionsplan zur Biodiversität. Wie erfolgreich diese Landwirtschaftspolitik ist, darüber gehen die Meinungen aber auseinander. Für die Umweltverbände ist das Glas bestenfalls halb voll. Der Bauernverband hingegen findet, die Landwirte machten schon genug, jetzt seien andere Akteure in der Pflicht. Den Bauern könne man nicht noch mehr Vorschriften aufhalsen, sonst könnten sie ihren Job nicht mehr machen.

Fest steht: Die Biodiversität ist weiterhin unter Druck, vor allem im Mittelland. Das hat mit der Ausdehnung des Siedlungsraums zu tun, aber auch mit der intensiven Landwirtschaft. Die Eidgenössische Forschungsanstalt WSL bilanzierte kürzlich, es habe im Zuge der Industrialisierung und der Gewässerkorrekturen bis zu den Boomjahren nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Bereichen der Biodiversität starke Verluste gegeben. Seither beobachte man bei gewissen Artengruppen und Lebensräumen eine Stabilisierung oder Erholung. Eine echte Trendwende sei aber nur in wenigen Lebensräumen und Artengruppen erreicht. Gemäss der roten Liste der Lebensräume sei etwa die Hälfte der Lebensraumtypen gefährdet.

Die Umweltverbände wollen mit ihrer Biodiversitätsinitiative, die am 22. September zur Abstimmung kommt, gegensteuern. Der Initiativtext wirkt beim ersten Lesen zahm. Und doch hat es einen Grund, dass Bundesrat und Parlament die Initiative ablehnen. Der Umweltminister Albert Rösti sprach kürzlich an einer Medienkonferenz von einer «extremen Initiative». Anders als der verkürzte Titel «Biodiversitätsinitiative» suggeriere, gehe es bei dieser Abstimmung um viel mehr: um einen weitreichenden Schutz von Landschaften, Ortsbildern und Natur- und Kulturdenkmälern. Beispielsweise werde die Bewilligung von Wohnsiedlungen oder von alpinen Fotovoltaikanlagen erschwert, sagte Rösti. Auch der Tourismus und die Landwirtschaft würden geschwächt.

Güterabwägung nicht mehr möglich

Besonders einschneidend ist ein Satz, der in der Bundesverfassung zu stehen kommen soll: «Der Kerngehalt der Schutzwerte ist zu erhalten.» Eine Güterabwägung zwischen Schutz und Nutzung sei so nicht mehr möglich, gab Rösti zu bedenken. Zudem drohten Mehrkosten von jährlich 400 Millionen Franken, obwohl der Bund heute schon jährlich 600 Millionen in den Erhalt der Artenvielfalt investiere.

Die Initianten entgegnen, auch Nichtstun verursache Kosten. Eine intakte Biodiversität sei die Grundlage für die Landwirtschaft, beuge dem Klimawandel vor und schütze vor Umweltkatastrophen. Wird die Initiative angenommen, muss das Parlament eine Gesetzesvorlage ausarbeiten. Erst dann werden die konkreten Folgen klar sein.

Der Bundesrat hatte ursprünglich einen Gegenvorschlag zur Initiative ausgearbeitet, der vom Parlament aber nach diversen Nachbesserungen schliesslich versenkt wurde. Seit dem gehässigen Abstimmungskampf über die Pestizid- und die Trinkwasserinitiative im Jahr 2021 herrscht dicke Luft zwischen den Umweltverbänden und dem Bauernverband. Der Bauernpräsident Markus Ritter (Mitte) ist offenbar überzeugt, auch diese Abstimmung gewinnen zu können, und hat die Parlamentsmehrheit auf seine Seite gezogen. Die Umweltverbände hatten schon signalisiert, dass sie für den Gegenvorschlag ihre Initiative zurückgezogen hätten.

In einer ersten Umfrage von «20 Minuten»/Tamedia-Zeitungen sprachen sich 51 Prozent der Befragten für ein Ja zur Biodiversitätsinitiative aus. Das ist nicht besonders viel. Normalerweise sinkt im Lauf des Abstimmungskampfs die Zustimmung zu Volksinitiativen. Dass die Initianten mehrere anspruchsvolle Themen unter dem lieblich klingenden Kurztitel «Biodiversität» verkaufen wollen, ist riskant. So bieten sie viele Angriffsflächen.

Ein Bärendienst?

Sagt das Volk Nein, könnten die Initianten dem berechtigten Anliegen des Biodiversitätsschutzes in der Landwirtschaft einen Bärendienst erweisen. Im Prinzip ist nämlich klar, was es dafür braucht, und vieles ist schon in die Wege geleitet. Diverse Kantone haben erfolgreiche Vernetzungsprojekte am Laufen. Thomas Baumann ist mit seinen Hecken, Schweinen und Kröten bei weitem nicht der Einzige, der Förderung der Biodiversität und Nahrungsmittelproduktion vereint. Diverse Studien zeigen auch auf, was das wichtigste Erfolgskriterium für solche Projekte ist: eine fundierte gesamtbetriebliche Beratung auf Augenhöhe mit den Landwirten. Deren Motivation könnte sinken, wenn das Volk am 22. September Nein sagen sollte zur Biodiversitätsinitiative.

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