Sonntag, November 9

Nach dem Veto des Obersten Gerichts verschärft Grossbritannien das Asylrecht. Was genau sieht der neue Plan vor? Und wird er funktionieren?

Vor zwei Jahren kündigte der damalige britische Premierminister Boris Johnson einen spektakulären Plan zur Eindämmung der Migration über den Ärmelkanal an. Grossbritannien wolle Asylsuchende künftig nach Rwanda ausschaffen – und damit weitere Bootsflüchtlinge vor der Überfahrt von Frankreich abschrecken. Der amtierende Regierungschef Rishi Sunak hat sich Johnsons Plan zu eigen gemacht, obwohl die Umsetzung bisher an praktischen und rechtlichen Hürden gescheitert ist.

In der Nacht auf Dienstag nun hat eine neue Verschärfung des Asylrechts aber die letzte parlamentarische Hürde genommen – trotz zähem Widerstand des Oberhauses. An einer Medienkonferenz stellte Sunak in Aussicht, dass innerhalb von zehn bis zwölf Wochen die ersten Asylsuchenden ins ostafrikanische Land ausgeflogen würden.

Was besagt der Plan, und ist er rechtmässig?

Im Prinzip klingt der Plan, der auch in vielen anderen europäischen Hauptstädten auf Interesse stösst, einfach: Asylsuchende, die auf irregulärem Weg auf britisches Territorium gelangen, verwirken ihre Chance auf ein Bleiberecht in Grossbritannien. Vielmehr droht ihnen die Ausschaffung nach Rwanda. Dort sollen die Migranten ein Asylverfahren nach rwandischem Recht durchlaufen und gegebenenfalls Asyl oder einen anderen Aufenthaltstitel erhalten. Eine Rückkehr nach Grossbritannien aber bliebe ihnen für immer verwehrt.

Im Sommer 2022 stoppte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den ersten Ausschaffungsflug nach Rwanda in letzter Minute. Die Begründung: Die britische Justiz müsse zuerst abschliessend die Rechtmässigkeit des Plans abklären. Im November 2023 kam der britische Supreme Court einstimmig zu dem Schluss, die Ausschaffungen nach Rwanda seien rechtswidrig.

Gemäss dem letztinstanzlichen Urteil ist die Auslagerung von Asylverfahren zwar zulässig – aber nur, wenn der betreffende Drittstaat strenge Sicherheits- und Verfahrensgarantien abgeben kann. Im Fall Rwandas kritisierten die Richter die schlechte Menschenrechtslage. Und sie erkannten eine Gefahr, dass die Regierung in Kigali die Asylsuchenden entgegen dem völkerrechtlichen Non-Refoulement-Gebot in Länder ausschaffen könnte, wo sie an Leib und Leben bedroht wären.

Nimmt das neue Asylgesetz die Kritik auf?

Sunaks Regierung reagierte mit zwei Massnahmen auf den höchstrichterlichen Entscheid. Einerseits schloss sie mit Kigali im Dezember 2023 einen Staatsvertrag ab, der garantieren soll, dass die rwandischen Behörden keine Migranten aus dem Land werfen – egal ob sie in Rwanda Asyl erhalten oder nicht.

Andererseits soll die schärfere Asylgesetzgebung den Spielraum der Richter und die rechtsstaatlichen Beschwerdewege erheblich einschränken. Das neue Gesetz erklärt Rwanda zum sicheren Drittstaat und hält die britischen Gerichte an, Teile der nationalen und internationalen Menschenrechtsbestimmungen (wie etwa die Genfer Flüchtlingskonvention) bei der Beurteilung von Ausschaffungen nach Kigali explizit nicht zu beachten.

Das Gesetz schränkt zudem die Möglichkeit für Asylsuchende stark ein, gegen eine Ausschaffung Rekurs einzulegen. Anders als von den Hardlinern innerhalb der Konservativen Partei gefordert, bleiben aber gewisse Rekurse möglich – etwa wenn Asylsuchende eine ganz spezifische Bedrohung für ihre Person in Rwanda geltend machen.

Wie hoch sind die Kosten?

Gemäss Berechnungen des National Audit Office (NAO) wird Grossbritannien Rwanda für die Migrationspartnerschaft in den nächsten fünf Jahren umgerechnet mindestens 422 Millionen Franken bezahlen. Kommen mehr als 300 Asylsuchende in Rwanda an, erhält das ostafrikanische Land zudem Entwicklungshilfe im Umfang von 135 Millionen Franken.

Darüber hinaus werden laut dem NAO bis zu 169 000 Franken pro Person innerhalb von fünf Jahren fällig, um die Kosten für das Asylverfahren, die Unterbringung und die Integration zu decken. Insgesamt dürfte das Programm daher mit mehr als 684 Millionen Franken (600 Millionen Pfund) zu Buche schlagen. Nicht inbegriffen in diesen Berechnungen sind die Kosten für Asylsuchende, die die britische Regierung mit einer Barzahlung zur freiwilligen Auswanderung nach Rwanda bewegen will. Sunak betont, dass der Plan langfristig zu Einsparungen führen werde, da weniger Asylsuchende nach Grossbritannien kämen.

Wird der Plan funktionieren?

Die Labour-Opposition, aber auch die Vertreter des rechten Flügels der Konservativen Partei bezweifeln, dass der Plan den Praxistest bestehen wird. Das Gesetz steht explizit in Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen Grossbritanniens und lässt gewisse Rekurse zu. Manche Beobachter glauben, dass sich britische oder europäische Richter in Strassburg erneut gegen Ausschaffungen stellen werden – auch wenn Sunak betont, die Regierung werde sich von der Durchsetzung ihres Plans nicht mehr abbringen lassen.

Das Innenministerium geht davon aus, dass nach Behandlung der Einsprachen im Juli die ersten Flüge abheben könnten. Die Regierung will nun Asylsuchende auswählen, bei denen sie die Chancen auf einen erfolgreichen Rekurs als gering erachtet und sie vorsorglich inhaftieren. Laut Sunak stellt die Regierung 25 Gerichtsräume und 150 Richter bereit, um die Einsprachen zügig zu behandeln. Daher ist es durchaus plausibel, dass es Sunak gelingt, zumindest einen Teil der Asylsuchenden nach Kigali auszufliegen.

Ob über das Programm danach aber eine grössere Zahl von Bootsmigranten nach Rwanda gebracht werden kann, ist ungewiss. Sunak sprach zwar von rund zwei Flügen pro Monat. Doch zum einen könnten manche Asylsuchende mit ihren Einsprachen Erfolg haben. Zum anderen sind die Aufnahmekapazitäten Rwandas zumindest zu Beginn begrenzt. In London ist zu hören, Rwanda gehe von 1000 Asylsuchenden innerhalb von fünf Jahren aus. In den vergangenen drei Jahren gelangten jeweils zwischen knapp 30 000 und rund 45 000 Migranten über den Ärmelkanal.

Migration via Ärmelkanal geht 2023 nach Rekord leicht zurück

Zahl der von den britischen Behörden aufgegriffenen Bootsmigranten pro Jahr

Die grosse offene Frage ist daher, ob der Rwanda-Pakt die erhoffte abschreckende Wirkung entfalten wird. Asylsuchende, die es bereits nach Frankreich geschafft haben, könnten versucht sein, auf dem europäischen Kontinent zu bleiben, anstatt mit einer Überfahrt nach Grossbritannien die Ausschaffung nach Rwanda zu riskieren. Ist die Chance, in Kigali zu landen, verschwindend klein, dürfte sich aber auch die abschreckende Wirkung in Grenzen halten.

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