Mittwoch, Oktober 9

Kiews Truppen rücken in Russland nur noch langsam vor. Beide Seiten müssen nun entscheiden, ob sie Kursk oder den Donbass priorisieren. Der Verlust der Initiative auf dem Schlachtfeld macht Moskau nervös.

Nach dem raschen Vorstoss der Ukrainer ins russische Grenzgebiet haben sich die Fronten etwas stabilisiert. Die Truppen Kiews eroberten seit Donnerstag laut der «Deep State Map» noch einmal zwei Orte. Es stehen etwa 530 Quadratkilometer in der Region Kursk unter ihrer Kontrolle. 630 liegen in einer Grauzone, in der die feindlichen Positionen teilweise nahtlos ineinander übergehen.

Angespannt ist die Lage auch in der benachbarten ukrainischen Region Sumi. Dort bewegen die Ukrainer zwar recht unbehelligt grosse Mengen an militärischem Gerät. Auf den Strassen sind Himars-Raketenwerfer zu sehen, periodisch fliegen Kampfjets vorbei. Allerdings beschiessen die Russen die Stadt Sumi und die umliegenden Dörfer nun vermehrt mit Gleitbomben und Raketen. Ihre Drohnen machen zudem Jagd auf modernes westliches Gerät, das nahe an der Grenze aufgestellt wurde. Immerhin der Beschuss durch Artillerie hat abgenommen.

Der Fluss Seim als natürliche Barriere

In Kursk tritt immer stärker der grenznahe Fluss Seim als Trennlinie hervor. Mehrfach griffen die Ukrainer Brücken an. Seit Freitag zerstörten sie zwei zentrale Übergänge in der Nähe des Dorfs Korenewo. Dieses liegt im äussersten Nordwesten des umkämpften Gebiets. Meldungen, wonach dort bis zu 700 russische Soldaten umzingelt und von Rückzugsmöglichkeiten abgeschnitten seien, lassen sich bis jetzt nicht bestätigen. Andernorts machten die Ukrainer weiterhin Gefangene, gesamthaft mindestens mehrere hundert.

Wie weit die Ukrainer noch vorrücken können und wollen, ohne ihre Linien zu überdehnen, bleibt unklar. Die Heftigkeit der Kämpfe hat offenbar zugenommen, und ein weiterer versuchter Einmarsch in die östlicher gelegene Region Belgorod ist laut Medienberichten vor wenigen Tagen gescheitert. Im Nordwesten bietet der Fluss Seim eine natürliche Barriere. Diese erleichtert den Russen die Verteidigung – und wird den Ukrainern dereinst möglicherweise Gelegenheiten bieten, sich einzugraben, falls Moskau Gegenangriffe lanciert.

Bisher sind die ukrainischen Truppen aber weit davon entfernt, das gesamte russische Gebiet südlich des Flusses zu kontrollieren. Am Seim liegt auch die Kleinstadt Rylsk, 25 Kilometer von Korenewo entfernt, die ein erreichbares Ziel darstellen könnte. Sie dient als Zentrum für Russlands Kriegslogistik, da Rylsk ein wichtiger Bahnknotenpunkt ist. Bereits jetzt steht das regionale Eisenbahnnetz laut der Zeitung «Moscow Times» durch die Kämpfe und die Verlegung zusätzlicher Einheiten am Randes des Kollapses. Durch weitere ukrainische Angriffe dürfte sich die bereits schwierige Versorgungslage der russischen Truppen noch zuspitzen.

Eine entscheidende Frage für die weiteren Entwicklungen in Kursk ist, wie viele zusätzliche Ressourcen beide Seiten dort einsetzen. Genaue Zahlen über die Truppenstärke bleiben geheim. Das «Wall Street Journal» zitiert Schätzungen westlicher Militäranalysten, wonach Kiew etwa 6000 Kämpfer nach Kursk verlegt hat, die von 4000 weiteren Soldaten in der Region Sumi unterstützt werden. Auf russischer Seite kämpfen 5000 Mann. Für eine Rückeroberung der ukrainisch besetzten Gebiete brauchte es aber über 20 000, schreibt die Zeitung.

Die Reserven der Ukrainer und Russen

Auch wenn Experten davon ausgehen, dass die Reserven der Russen grösser sind als jene der Ukrainer, würde dies einen erheblichen Kraftakt bedeuten. Bisher kann Moskau trotz dem ukrainischen Vorstoss die Offensive im Donbass weiterführen. Am Wochenende fiel ein weiteres Dorf in der Nähe der Stadt Pokrowsk. Laut russischen Militärkorrespondenten besteht das Ziel darin, die ganz im Südosten bei Wuhledar kämpfenden Verteidiger einzukreisen oder zu einem grösseren Rückzug zu zwingen.

Die russischen Verluste sind allerdings anhaltend riesig. So zerstörten die Ukrainer erneut mehrere gepanzerte Kolonnen und zwangen die Angreifer teilweise zum Rückzug. Laut amerikanischen Quellen führt die ukrainische Offensive im Norden bisher kaum zu einem Abzug von russischen Truppen direkt aus dem Donbass. Allerdings musste Moskau Reserven nach Kursk verlegen, welche die ausgedünnten und erschöpften Soldaten in der Ostukraine hätten ablösen sollen.

Dass Russland nach Monaten des Vorrückens teilweise die Initiative verloren hat, sorgt dort für Nervosität. So üben Lokalpolitiker und die lange sehr zahmen Militärkorrespondenten wieder heftige Kritik an der mangelnden Vorbereitung und der Inkompetenz, die im Zuge der Kursk-Operation zutage tritt. Propagandisten wie Juri Podoljaka fordern die «volle Mobilisierung» der Gesellschaft für den Krieg, nachdem am Staatsfernsehen die Möglichkeit diskutiert wurde, dass Russland den Krieg verlieren könnte. Er kritisiert Generäle, welche die Lage «durch eine rosarote Brille» darstellten, statt die notwendigen Entscheide zu treffen. «Ihre Lügen sind unser Hauptfeind», schreibt er auf Telegram.

Der ukrainische Vorstoss wirkt sich auch international aus. Der Druck auf Kiew, rasch eine Verhandlungslösung zu suchen, hat spürbar abgenommen. Folgen zeigen die neuen Kämpfe aber auch für sinnvolle Verhandlungen über begrenzte Ziele: So hätten sich russische und ukrainische Abgesandte laut Informationen der «Washington Post» im August treffen sollen, um über ein Abkommen zu reden, das ein Ende der gegenseitigen Angriffe gegen die Energieinfrastruktur vorsah. Die Gespräche kommen nun vorläufig nicht zustande.

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