Kinder werden immer früher geschlechtsreif. Die Corona-Pandemie hat die Entwicklung beschleunigt. Viele Eltern sind besorgt. Liegt die Ursache in unserem evolutionären Erbe?
Wie lange ein Mensch ein Kind ist und wann er erwachsen wird – das haben unsere Vorfahren wohl ganz anders gesehen als wir heute. So soll Johann Sebastian Bach im 18. Jahrhundert noch die glockenhellen Sopranstimmen siebzehn- oder achtzehnjähriger Männer im Leipziger Thomanerchor singen gehört haben. Heute gibt es das nicht mehr.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sinkt das Pubertätsalter bei beiden Geschlechtern beständig. Im Durchschnitt kommen Buben heute im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren in den Stimmbruch. Bei den Mädchen ist dieser Effekt noch stärker ausgeprägt: Seit den 1970er Jahren rückt der Zeitpunkt ihrer Menarche, also der ersten Menstruation, pro Dekade drei Monate vor. Heute bekommen die Mädchen in den allermeisten europäischen Ländern ihre erste Periode zwischen zwölf und dreizehn Jahren. Um 1850 herum erlebten Mädchen ihre erste Blutung noch im Schnitt zwischen sechzehn und siebzehn Jahren.
Und diese Entwicklung bleibt nicht stehen, die Corona-Pandemie scheint sie sogar beschleunigt zu haben: Studien aus Deutschland und der Türkei zeigen, dass sich die Anfragen bei Ärzten aufgrund von Frühpubertät – bei Mädchen, die jünger als acht Jahre alt sind, und bei Jungen, die jünger als neun sind – verdoppelt oder sogar verdreifacht haben während der Lockdowns im Jahr 2020. Nationale Statistikdaten aus Südkorea belegen, dass sich die Fälle von sogenannter Pubertas praecox, also Frühpubertät, zwischen 2016 und 2021 verdoppelten, mit einem besonders hohen Anstieg im Jahr 2020.
Achtjährige mit Schamhaaren
In den USA ist die frühe Pubertät als Phänomen länger bekannt. Ab den 1960er Jahren hatte dort gegolten, dass bei Mädchen das Brustwachstum im Durchschnitt mit etwa elf Jahren beginnt. Doch in den 1980er Jahren bemerkten New Yorker Ärzte, dass immer mehr acht- oder neunjährige Mädchen ins Spital kamen, deren Brüste sich bereits bildeten und denen erste Schamhaare wuchsen. Die Vereinigung der amerikanischen Ärzte untersuchte daraufhin 17 000 Mädchen – und veröffentlichte in den späten 1990er Jahren das Ergebnis: Weisse Mädchen begannen mit zehn Jahren zu pubertieren, schwarze sogar mit neun. Seitdem diskutiert die amerikanische Öffentlichkeit, viele Eltern reagieren nervös und fürchten eine frühe Sexualisierung ihrer Kinder.
Regelmässig verschreiben Ärzte in den USA Pubertätsblocker, um die frühe Pubertät nach hinten zu verschieben. Nicht gerade beruhigend für viele Eltern ist wohl auch die Tatsache, dass Wissenschafter rätseln, was die Ursache ist. Noch weiss kein Arzt und kein Wissenschafter, warum der Körper überhaupt zu einem bestimmten Zeitpunkt auf Pubertät umstellt. Klar ist: Der Prozess beginnt im Gehirn. Die Nebenniere stimuliert die Nervenzentren in der Hirnanhangdrüse, Hormone werden ausgeschüttet, der Körper wird mit Östrogen und anderen Geschlechtshormonen überflutet.
Bei Mädchen setzen daraufhin das Brustwachstum und die erste Regelblutung ein, Jungen bekommen einen grösseren Kehlkopf, die Stimme wird tiefer. In den allermeisten Fällen ist eine frühe Pubertät nicht krankhaft. Wissenschafter gehen davon aus, dass ein wichtiger Faktor für die Entwicklung, die in allen industrialisierten Ländern stattfindet, die gute Ernährungssituation ist: «Voraussetzung für die Fortpflanzung ist genügend Fettgewebe», sagt Oskar Jenni, Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich.
Wie genau der Mechanismus funktioniert, wissen Mediziner nicht. Vermutet wird aber ein Zusammenhang mit den Sättigungshormonen Leptin und Insulin. Übergewichtige haben mehr davon im Blut – diese Hormone regulieren aber nicht nur das Sättigungsgefühl und den Energiehaushalt. Sie nehmen auch Einfluss auf die Sexualhormone und damit die Pubertät.
Auch Stress könnte schuld sein
Ein Beleg dafür sind extreme Mangelsituationen oder Magersucht – bei betroffenen Menschen stellt der Körper seine Sexualfunktion ein, wenn er nicht mehr genug Energie hat. Bei Frauen bleibt dann die Menstruation aus. Da Mädchen heute also immer früher das erforderliche Gewicht erreichen, pubertieren sie eher. Dafür spricht, dass übergewichtige Kinder von einer frühen Pubertät tatsächlich besonders betroffen sind. Fettigeres Essen und weniger Bewegung in der Pandemie könnten auch ein Grund dafür sein, dass die Zahlen in den Lockdowns anstiegen.
Doch diese Erklärung allein reicht nicht aus. Denn auch schlanke Mädchen pubertieren häufig früh. Dänische Kinder sind heute im Schnitt nicht dicker als noch vor zwanzig Jahren, trotzdem treten auch bei ihnen Brustwachstum und Stimmbruch früher auf. Forscher vermuten als weitere Faktoren Chemikalien, besonders Plastikbestandteile oder Weichmacher wie Bisphenol A, die in vielen Haushaltsgegenständen enthalten sind und wie Sexualhormone wirken könnten. Gute Belege dafür konnte aber bis anhin niemand finden.
«Eine weitere Ursache könnten Stress und der moderne Lebensstil mit viel künstlichem Licht, Lärm und Schlafmangel sein», sagt Jenni. Kinder, die sexuell missbraucht wurden, psychischem Druck oder Gewalt ausgesetzt waren, kommen früher in die Pubertät. Jene hingegen, die Hungerphasen durchlitten, später.
Einst war die frühe Pubertät vielleicht normal
«Weil die frühe Pubertät weltweit immer häufiger auftritt, vermute ich dahinter aber eher einen grösseren, evolutionsbiologischen Zusammenhang», sagt Oskar Jenni. Bereits der neuseeländische Hormonexperte Peter Gluckman hatte vor einigen Jahren die entsprechende Theorie vertreten: Seiner Meinung nach ist die früh einsetzende Pubertät eine unweigerliche Entwicklung, weil sie der eigentlichen Natur des Menschen entspricht.
Während der Mensch als Jäger und Sammler gelebt habe, sei er früh geschlechtsreif gewesen, seine ersten Kinder habe er mit zwölf bis vierzehn Jahren bekommen, schreibt Gluckman. Erst die verschlechterten Ernährungsbedingungen nach der neolithischen Revolution, als der Mensch Landwirtschaft zu betreiben begann, und insbesondere die katastrophalen Lebensbedingungen in der frühindustriellen Phase im 19. Jahrhundert hätten die Pubertät nach hinten verschoben. «Was heute passiert, ist also nur eine Korrektur in Richtung des Normalzustands», sagt Oskar Jenni.
Eine frühe Geschlechtsreife hat evolutionär gesehen den Vorteil, dass mehr Kinder auf die Welt kommen können – die Person gibt also häufiger ihre Gene weiter. Das Problem: In Jäger- und Sammlergesellschaften seien die Menschen in diesem Alter psychosozial reif und vollwertige Mitglieder ihrer Gesellschaft gewesen. «Heute ist das Leben allerdings derart komplex, dass Menschen erst mit Mitte zwanzig erwachsen werden. Und ich erlebe sogar, dass sich das immer weiter nach hinten verschiebt», sagt Jenni.
Mädchen werden behandelt wie Frauen
Und tatsächlich: Eigenes Geld verdienen, ausziehen, eine feste Partnerschaft – all das ist heute frühestens ab achtzehn Jahren normal und sozial akzeptiert. «Immer häufiger leben junge Menschen bis zum Ende ihres Studiums bei den Eltern.» Die Schere zwischen geistiger und körperlicher Entwicklung wird also immer grösser. Das kann laut Jenni die Jugendlichen verunsichern, besonders dann, wenn erwartet wird, dass sie bereits Verantwortung als Erwachsene übernehmen, obwohl sie dafür noch nicht reif sind.
«Mädchen mit dreizehn sehen heute häufig aus wie erwachsene Frauen und werden auch so behandelt – auch im sexuellen Kontext. Dabei sind sie innerlich noch Kinder», sagt Jenni.
Noch nie in der Menschheitsgeschichte sei die Lücke zwischen sexueller und gesellschaftlicher Reife so gross gewesen wie in den letzten hundert Jahren, schreibt Gluckman. Sollen Ärzte also wirklich eingreifen und die Pubertät medikamentös verzögern, wie es in den USA bereits häufiger geschieht? Die Herausforderung sei es, gesellschaftliche Strukturen an unsere Biologie anzupassen, und nicht unsere Biologie an die Gesellschaft. «Alles andere ist unethisch und gefährlich. Wir haben eine Verantwortung für die Jugendlichen», schreibt Gluckman.