Dienstag, Oktober 1

Gebrochene Versprechen, riesiger Ehrgeiz und unbändiges Besitzstreben. Zu seinem 100. Geburtstag kommen neue Seiten des Winterthurer Immobilienkönigs und Kunstsammlers zum Vorschein.

Dieser Bub weiss, was er will.

«Am Morgen habe ich den Entschluss gefasst, zuerst zwei Jahre in die Sekundarschule und danach vier Jahre ins Realgymnasium zu gehen.»

Und dieser Bub vermisst, zählt und wägt die Welt schon ganz genau.

«Ich kaufte auch noch Vasen in einem Ausverkauf. Ich kaufte sie für Aldo und Papa, doch sie gefielen den Mädchen so fest, dass ich sie ihnen verkaufte. So gewann ich an Emmi 1 Franken und an Anni 50 Rappen.»

Aus dem Buben wird ein Mann. Und was er geahnt hat, trifft ein. Bruno Stefanini aus Winterthur ist erfolgreich. Sehr erfolgreich sogar.

Das Geschäft mit Immobilien macht den Autodidakten und Sohn eines italienischen Gastarbeiters bereits in jungen Jahren zum Multimillionär.

Bei seinem Tod 2018 im Alter von 94 besitzt der Immobilienkönig vier Schlösser, das Sulzer-Hochhaus in Winterthur und mehrere tausend Wohnungen und Gewerberäumlichkeiten.

Bis heute prägt der Mann seine Stadt. Ganze Strassenzüge wurden von ihm erbaut und vermietet. Meist sind es zwar die dreckigen und leicht schadhaften Wohnungen, aber sie sind funktional und robust. Und günstig. Bis heute noch.

Nachdem er mit den Mietshäusern sein Vermögen aufgebaut hat, nimmt sich Stefanini die Winterthurer Altstadt vor. Den Grossteil der Häuser kauft er billig. Er vermietet günstig, investiert kaum. Das ärgert damals viele, heute sind viele Stadtbewohner froh, weil so die alte Bausubstanz erhalten blieb.

Am 5. August wäre Bruno Stefanini hundert Jahre alt geworden. Die Journalistin Charlotte Theile und der Journalist Christian Schepsmeier haben dem Milliardär, Messie und Visionär einen 58 Minuten langen Podcast gewidmet.

Sie haben Dokumente gesichtet und mit Zeitzeugen gesprochen. «Wir hatten vollen Zugang», sagt Theile. In Auftrag gegeben wurde die Audio-Doku von der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG).

Die Sammlung

Lange wusste niemand, was der Sammler Stefanini in seinen unzähligen Kellern und Lagern alles gehortet hatte. Mittlerweile ist klar: Es ist die wohl grösste Privatsammlung der Schweiz. Und die rätselhafteste.

Bereits zu Zeiten des Kalten Kriegs fängt Stefanini an zu sammeln: Seine Leidenschaft gilt Waffen, Kunst und Gegenständen, die einst berühmten Menschen gehörten. Also kauft er ein: Napoleons Feldbett, Hitlers Chiffriermaschine und eine ausgestopfte Wildsau, die Hermann Göring gehört haben soll.

Aber in seiner Sammlung finden sich auch Bilder von Albert Anker und Ferdinand Hodler. Stefanini wollte das, was er als westliche – und insbesondere Schweizer – Kulturschätze verstand, vor einem drohenden Atomkrieg schützen und für zukünftige Generationen bewahren.

Im Schloss Brestenberg am Hallwilersee türmen sich zeit seines Lebens die historischen Gegenstände bis unter die Decke. Hier wollte Stefanini ein historisches Museum eröffnen. Und hier hat Stefanini ein Versprechen gebrochen.

Stumme Zeugen dieses Verrats sind die vielen riesigen Skulpturen, die bis heute unter dem Schloss in einem drei Stockwerke tiefen Bunker vor sich hin vegetieren. Es sind abstrakte Figuren, verschlungene Körper. Ihr Schöpfer ist der Künstler Hans Jörg Limbach.

Der Freund

Stefanini und Limbach lernen sich im Militär kennen. Es ist der Beginn einer jahrzehntelangen Freundschaft. Gemeinsam steigen sie zu Hauptleuten auf. Beide sind ehrgeizig. Der eine wird Unternehmer, der andere Künstler.

Stefanini kauft die Werke seines Freundes auf. Es kommt einiges zusammen, Limbach ist ein tüchtiger Künstler, arbeitet jeden Tag bis zehn Stunden. Er schafft Tausende von Skulpturen.

Nur sieht die Welt nichts von seiner Schaffenskraft. Die Werke verschwinden in den Kellern, Lagern und Bunkern seines Mäzens. Der Künstler Limbach hat dadurch immer Geld, bleibt aber ein Nobody.

Stefanini versichert ihm, er entwickle Pläne, um die Werke der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Schloss Brestenberg soll zur Dauerausstellung werden. Limbach freut sich.

Was dem Künstler da noch nicht bewusst ist: Sein Freund entwickelt Pläne am laufenden Band, nur führt er die Dinge selten zu Ende. Ist das Überforderung – oder hatte Stefanini nie vor, sein Versprechen einzulösen?

Die Tochter Limbachs, Yvonne Neururer, sagt im Podcast «Schönheit. Schimmel. Schwerkraft»: «Sie hatten eine Vereinbarung, aber Stefanini hat nicht Wort gehalten.» Ihr Vater sei abhängig von seinem Freund gewesen. Limbach klagt der Tochter sein Leid: «Als Künstler verkauft man nicht nur seine Kunst, sondern auch sich selbst.»

1990 erschiesst sich Limbach. Bis zuletzt hat er damit gerechnet, dass Stefanini, der seinen Nachlass besitzt, der Welt seine Werke zeigen wird. Doch das ist nie passiert.

So liegen Limbachs Werke bis heute begraben im Bunker unter jenem Schloss, das einst zu ihrem Museum werden sollte. Die wenigen Skulpturen, die nicht in Stefaninis Kellern lagern, erzielen bei Auktionen oft nicht einmal den Materialpreis.

Niemand weiss, wie erfolgreich der Künstler geworden wäre, wenn Stefanini Wort gehalten hätte. Jedenfalls wurde Stefanini seinerzeit auch von Sammlern wie Christoph Blocher geschätzt, der einen ähnlichen Kunstgeschmack wie Stefanini hatte.

Die Familie

So wie mit seinem Freund verfährt Stefanini auch mit anderen. Er ist einer, der Abhängigkeiten schafft, ein Meister der gebrochenen Versprechen – seine Mietshäuser lässt er verlottern, wer seine Kaution zurückbekommen will, muss zum Teil vor Gericht ziehen.

Aber er hat auch eine andere Seite. Er ist ein lebenslustiger und begeisternder Mensch, der genau weiss, was er will. Seine Tochter Bettina Stefanini sagt: «Er liess die Menschen an seinen Gedanken teilhaben. Viele Leute dachten, sie hätten eine tiefe Beziehung zu ihm.»

Und er ist jemand, der beeindrucken und besitzen will.

In den 1960er Jahren gründet er eine Familie. Seine Frau Veronika spannt er einem befreundeten Bildhauer aus. Auch hier zeigt sich: Stefanini will, was andere haben.

Die drei Kinder müssen oft mit, wenn der Vater irgendwo Möbel oder Kunstwerke abholt. Während er mit der Sekretärin essen geht, muss der Nachwuchs auf der Ladefläche des LKW die Ware bewachen. «Wenn man Glück hatte, gab es ein Sofa, auf das wir uns setzen konnten», so erinnert sich Bettina Stefanini.

Stefanini ist ein Einzelgänger. Seine Frau Veronika fühlt sich von ihm nicht geliebt, sondern nur gebraucht. Die Familie haust in einem Haus, das eine Baustelle ist, weil es mit dem Umbau nicht vorwärtsgeht.

Frauen gegenüber kann er sich unmöglich verhalten. Der Podcast zitiert einen alten Freund, der beschreibt, wie Stefaninis Sekretärin Dora Bösiger ihm seine Schuhe an den Schreibtisch bringen muss. Und nicht nur das. Bösiger, ohne die das Imperium längst im Chaos versunken wäre, kriecht unter den Tisch und zieht dort ihrem Chef die Schuhe an.

Als seine Ehefrau es nicht mehr aushält, die Kinder mitnimmt und Stefanini verlässt, trifft ihn das trotzdem. Er fühlt sich verlassen und einsam. Noch mehr, als seine Tochter nach Irland auswandert. Die grösste Katastrophe für die Familie kommt aber, als Stefaninis Sohn sich das Leben nimmt.

Bettina Stefanini sagt: «Als Messie verursachte ihm die Trennung von Dingen fast einen körperlichen Schmerz. Und zu diesen Dingen gehörte auch die Familie.»

Seine Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG), die er 1980 gegründet hat, wird zum Familienersatz. Ab dem Auszug seiner Familie gibt er all seine Kraft in die Stiftung.

Trotz seinem Reichtum lebt Stefanini wie ein Bettler. Und sieht auch aus wie einer. Er ernährt sich von Cervelat und Brot und kauft seine Kleidung secondhand: «Es wird nichts weggeworfen, ausser gebrauchtes Klopapier» – so wird Stefanini im Podcast zitiert.

So wie er sich selbst verwahrlosen lässt, so vernachlässigt er auch seine Sammlung. Viele Werke fallen Schimmel und Feuchtigkeit zum Opfer. «Hinter dem Verlottern, dem Verwahrlosen steckt auch ein gewisser Selbsthass», so vermutet die Journalistin Charlotte Theile.

Die Stiftung

2013 stürzt Bruno Stefanini die Treppe hinunter. Er bekommt eine Vollnarkose. Sein Gedächtnis ist ab da reduziert.

In der Nacht vom 15. Januar 2013 notiert er:

«Konnte nicht schlafen, werde bald sterben. Dabei habe ich noch Tausende von Pendenzen. Sollte noch Testament machen.»

Am Ende seines Lebens verliert Stefanini die Kontrolle. Der Patron sinkt in die Demenz. Weil er zeitlebens keine starken Persönlichkeiten neben sich geduldet hat, kann in der Krise niemand übernehmen.

Als dem Monarchen irgendwann nichts anderes mehr übrigbleibt, als gesundheitsbedingt abzutreten, kommt es zum Kampf um die Stiftung. Nach einem jahrelangen Rechtsstreit mit dem damaligen Stiftungsrat übernimmt die Tochter Bettina Stefanini im Sommer 2018 das Präsidium.

Die Stiftung steht nun vor der Herausforderung, das Erbe des Gründers in die Gegenwart zu retten. Sie muss aufräumen, aber auch den Geist Stefaninis bewahren.

Ein Team von achtzig Personen hat 2021 und 2022 Ordnung in das Chaos gebracht. Der Grossteil der 100 000 historischen Gegenstände ist gereinigt, registriert, fotografiert und sicher verpackt.

Nur eine Frage, gestellt von dem Podcaster Christian Schepsmeier, vermag bis heute niemand zu beantworten: «Was um alles in der Welt hat diesen Mann so ruhelos gemacht?»

«Schönheit. Schimmel. Schwerkraft», ein Podcast von Charlotte Theile und Christian Schepsmeier vom Zürcher Storytelling-Kollektiv «Elephant Stories». Abrufbar unter www.skkg.ch

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