Montag, November 25

Die höchsten Berge des Kaukasus, massive Wehrtürme und Geschichten von modernen Raubrittern: Es ist, als möchte Swanetien Besucher abschrecken. Doch für diejenigen, die in Georgiens Schatzkammer vordringen, eröffnet sich eine Welt voller unvergleichlicher Erlebnisse.

Tante Doda ist tot. Die winzige Frau lag in ihrem winzigen Zimmer, gleich neben der steinernen Scheune. Blumen und Kerzen und Ikonen. Die Tante hatte keinen Mann, keine Kinder, sie wurde 88 Jahre alt. Nur ein paar Geschwister, die jetzt gekommen waren, sie zu beweinen. Die Familie war da und halb Mestia, von Wehrtürmen und Bergen umgürteter Hauptort Swanetiens hoch im Kaukasus.

Küsse auf die fahle Haut, Tränen auf kalte Augen. Stille, kein Klagegeschrei, nur der Gesang bärtiger Männer von draussen. Sie verriegelten den Sarg, darauf das Kreuz der heiligen Nino, die einst das erste christliche Kreuz in Georgiens Erde geschlagen hatte, gemacht aus dem Holz der Weinreben und verknotet mit ihrem Haar. Mit einem Pick-up fuhren sie die Alte zum Friedhof. Schnee lag in der Grube, Tante Doda würde es zunächst weich haben. Stumm schaufelten die Männer gefrorenen Sand hinein, er fiel mit den Klängen eines Trauerliedes ins Grab. Der Frostwind fauchte gegen die Kerze, Dodas gramstarrer Bruder Gotscha schützte sie mit seiner hohlen Hand. Der gnadenlose Wind des Kaukasus, Gotscha wehrte ihn ab, als sei die Flamme Dodas Lebenslicht.

Fast hätte er auch uns erwischt. Wir wollten dem Fluss Enguri entlang. Vom wilden Swanetien ins sonnenhelle Adscharien, vom himmelnahen Uschguli hinunter nach Batumi ans Schwarze Meer. Der Kaukasus hatte andere Pläne. Im 2000-Seelen-Ort Mestia liess er seine weisse Armee auf uns los, in kürzester Zeit hatte sie uns eingekesselt. Die Strassen vereist, die Pässe unter Schnee begraben, kein Weg in keine Richtung. Dazu dieser Wind, scharf wie ein Henkersschwert.

Alpines Gebiet: Die georgische Region Swanetien im Kaukasus

Die Wetterdämonen nehmen die Gäste gefangen

Wir fanden den Aufwand übertrieben. Doch dies ist die kaltblütigste Gegend Georgiens, die am schwierigsten zugängliche. Einige der höchsten Berge des Kaukasus riegeln sie ab, um die 5000 Meter aufschiessend, mit schroffen Wänden und tief fallenden Schluchten, mit fussbreiten Pässen und tückischen Graten. Dazu Flüsse, Bäche, Seen, Gletscher, Wasserfälle, finsterer Tann. Und eben jähzornige Wettergötter. Eine brutale, eine atemberaubend schöne Gegend.

Und nun waren wir in ihrer Gewalt, Gefangene im Kaukasus. Doch anders als Tolstois armem Helden erging es uns sehr gut. Sieht man von der Folter ab, die ein schwerer Kater nach zu viel Wein, nach zu viel Tschatscha, dem georgischen Grappa, bereiten kann. Von allem gab es reichlich während der vier Tage, die uns Mestias Wetterdämonen und die Gastfreundlichkeit der Swanen umklammerten.

Bei der Beerdigung von Tante Doda müssen es Fässer gewesen sein. In Hundertschaften zog die Trauergemeinde nach dem Begängnis in die zweistöckige Scheune ein, die Männer oben, die Frauen unten, wie es die Sitte will. Auf den Tischen die Speisen gegen den Kummer: der klebrige Korkoti, in Honig und Rosinen gekochtes Weizenkorn, die fetttriefende Käsetasche Chatschapuri, der Käse Sulguni, grüne Hirsefladen und Walnussmus auf Auberginen.

Und Wein, Wein. Er ist den Georgiern kein Alkohol, er ist ihnen flüssiges Gebet. Frauen und junge Burschen schenkten unaufhörlich nach, dann sprach der Tamada. Er ist der Chef am Tisch, er sagt, wann getrunken, wann geredet werden darf. Kein Fest ohne den Tamada. Und keines ohne festgelegte Trinkreden: zu Gott, zum Land, zum Dorf, zur Familie, es hat kein Ende.

Ach, die Tante Doda, sie war ein wunderbarer Mensch, die Filzmützen ab, die Beanies, die Caps. «Ein Lied auf Tante Doda», rief der Tamada, «gab es je eine schönere Frau? Und ein Lied auf Swanetien, gab es je ein reicheres Land?»

Die verplombte Landschaft sichert wertvolle Schätze

Hmm, schwer zu sagen. Die Flüsse Swanetiens tragen Gold, es schimmert in den Kirchen, den Museen, in den Häusern. Und wann immer sich fremde Heerscharen an Georgiens Grenzen zeigten, brachten die Völker der Ebene ihre Reichtümer hierher, hoch nach Swanetien. Sie schleppten ihre goldenen Ikonen, ihre goldenen Kreuze, ihre goldbeschlagenen Bibeln in die von Sümpfen, Wäldern, Felsen und wütenden Wettern verplombte Landschaft. Swanetien war die Schatzkammer, es war das Fort Knox Georgiens. Ein steinerner Tresor, der allseits gefürchtete Wächter hatte: die Swanen selbst. Wie aus dem Fels geschlagene Krieger sind sie, hart wie die Wehrtürme ringsum.

Diese Türme sind über zwanzig Meter hohe granitene Recken. Anstürmende Feinde bissen sich an ihren meterdicken Mauern die Zähne aus. Drinnen mehrere Stockwerke, Platz für ein kleines Dorf: offene Feuerstellen und Schweinekoben, Altar und Heuraufe, Schmiede und Backofen, und das war nur die «gute Stube». Der frei abziehende Rauch hatte alle Balken eisenhart gemacht. Ich fragte Dato, unseren Führer, wie viele Bewohner ob dieses Qualms krank geworden seien. Er wies auf einen kleinen Felsen in der Wand: «Der Stein wiegt sechs Tonnen», sagte er, «sie haben ihn ein paar Meter hoch gewuchtet. Da kann man nicht krank sein.»

«Sie sind ein mächtiges Volk, wie mir scheint, das tapferste und kühnste überhaupt», schrieb der griechische Geograf Strabon um die Epochenwende. Glücklich die Könige, die eine swanetische Leibgarde um sich wussten. Stalin, der barbarischste von ihnen, einst König der halben Welt, er hatte seine Swanen vor der Tür.

Das aufstrebende Skigebiet lebt von Improvisationen

Der doppelköpfige Uschba grollte, als wir durch die Strassen gingen. Der «Fürchterliche» warf seine Flockenheere gegen uns, seine beiden Gipfel piksten die Wolken an. Eine Herde Maultiere trottete stumm durch Mestias Hauptstrasse, eins nach dem anderen, wie ein Zug hängeohriger Pilger. Ihnen entgegen lärmte eine Horde Touristen in bunten Skianzügen, sie beachteten einander nicht. Riesige Hunde strichen um unsere Beine, ein paar hundert Meter Geleitschutz, dann verschwanden sie, und die nächste Meute übernahm. Autos umkurvten Kühe, Pferde, Schweine, vor dem neuen Glaspalast der Polizeiwache lagerten Ziegen. Grelle Schilder stiessen durch das Grau. Pensionen, Hotels, Restaurants, Bars buhlten um Gäste. Osteuropäer hauptsächlich, jene in den kreischenden Overalls.

Seit einigen Jahren gibt es ein paar ansehnliche Pisten rund um Mestia, gespurte Pfade, Schneeschuhwege. Ein Lift führt auf über 2000 Meter, eine kleine Sportbar spielt Après-Ski. Noch lange kein Davos, kein St. Moritz, auch wenn die Dame der örtlichen Tourismusinformation ihren rot lackierten Zeigefinger auf Flyer und Broschüren stach – und von der «Kaukasischen Schweiz» sprach.

Dazu aber braucht es mehr Zeit, mehr Geld und guten Willen aus Tbilissis Tourismusministerium, aus dem Finanzministerium. Bis dahin räumen die Swanen ihre Zimmer frei und hängen bunte Schilder an die verwitterten Mauern. Oder bauen selbst Pensionen und kleine Hotels zu oft aberwitzigen Krediten und Risiken.

So wie Dato Kafdaridse, unser Gastgeber in «Dato’s Hotel». Von seinen geborgten 400 000 Lari, rund 140 000 Franken, möchte die Bank in zehn Jahren 800 000 Lari wiederhaben. Schafft er es? «Keine Ahnung», rief Dato aus dem zweiten Stock seines Hotels, ein Rohbau, die Maurerkelle in der Hand. «Hängt davon ab.» Sein erster Stock hat gemütliche Zimmer, die Lobby ein Kaminfeuer zum Träumen. «Hängt davon ab» – ob das Skigebiet endlich erweitert wird, wie seit Jahren geplant, ob die Strassen endlich fertig gebaut werden, ob endlich Tunnel durch den Stein getrieben werden, ob der kleine Flugplatz ausgebaut wird.

Aber auch davon, ob die Gäste Datos Hotel überhaupt finden zwischen den bruchfälligen Häuschen der Nachbarschaft, zugänglich nur über einen sumpfigen, vom Vieh verschissenen Weg. Hinein in einen lichten Hof mit Blick auf Berge, Hütten und Investruinen der Sowjetzeit. Die Neonschilder an den Pensionen, die Schlamm- und Stolperpfade zwischen den eilig hochgezogenen Hotels, die Restaurants und Bars mit dem kleinen Angebot und ihrer unbeholfenen Internationalität («Sunseti» etwa heisst eine Bar, ein Restaurant «Las Vegas»): Mestia ist wie ein pubertierendes Mädchen, das es den Grossen gleichtun will. Mehr als Schminke schafft es aber noch nicht.

Das moderne Raubrittertum wurde gestoppt

Immerhin, man kann inzwischen ohne Begleitschutz hierher. Noch bis vor fünfzehn Jahren buchten abenteuerlustige Touristen Männer mit MPs, tageweise. Denn in Swanetien blühte das Raubrittertum, es machte weder halt vor fremden Wanderern noch vor den Bauern der Umgebung.

Am schlimmsten, so erinnert man sich in Mestia, trieb es die Afrasidse-Bande, Vater und Sohn und ein paar zu allem bereite Kumpane. Eines Morgens kreisten Helikopter über ihren Häusern. Den Vater trafen die Kugeln, als er schlaftrunken auf den Balkon trat, den besoffenen Sohn zerrten die Polizisten aus dem Bett und erschossen ihn vor der Tür. Keiner der Bande überlebte, anderen Gangs erging es ähnlich.

Und weil die Regierung gerade beim Grossreinemachen war, wurden zugleich fast alle Polizisten Georgiens und der grösste Teil der Justiz entlassen. Dato, unser Gastgeber, verlor seinen Posten als «höherer Beamter», mehr wollte er nicht sagen. «Na und, ich bin glücklicher jetzt», behauptete er und putzte sich den Mörtel von der Hose.

Der Herr der Schlüssel wacht über verfallende Wunder

Auch die Kirche der Verklärung hatten die Räuber gefleddert. «Aber», rief Rewas Chojewani, «gibt Gott nicht Wunder denen, die ihn am tiefsten verehren?» War es nicht ein Wunder, dass alle gestohlenen Teile wieder auftauchten, die Ikonen, die goldenen Kreuze, die jahrhundertealten Bibeln?

Eine Kerzenflamme erhellte das Gesicht von Rewas, Schatten spielten an den Wänden, dass es aussah, als tanzten die Heiligen darauf, der auferstandene Lazarus, Maria, der heilige Georg, Erzengel und Märtyrer. Es sind Fresken, sie stammen aus dem 12. Jahrhundert. An einigen Stellen ist der Putz abgefallen, darunter liegt eine weitere Schicht mit Bildern, sie wurden im 10. Jahrhundert gemalt.

Auch die Kapelle im ersten Stock ist über tausend Jahre alt. Neben dem Altar dunkle Kruzifixe, goldene Kruzifixe, Ikonen mit goldenen Intarsien oder silbernen Pigmenten, uralte hölzerne Schlüssel, Weihrauchgefässe, Rosenkränze. Ungeschützt liegen sie hier, keine Vitrinen aus Panzerglas darum herum, keine unsichtbaren Laserzäune. Nur Rewas war da, der 65-jährige Wächter mit nichts weiter als seinen Gebeten und dem Glauben an Wunder.

Manchmal allerdings brauchen selbst Wunder ein wenig Unterstützung: Rewas erzählte in der Kapelle von filmreifen Treffen mit der georgischen Mafia, inklusive Lichthupen und Körperchecks vor dem Einsteigen in schwarze Geländewagen, von geflüsterten Verhandlungen auf Rücksitzen. Er berichtete von korrupten Polizisten und gierigen Kunstprofessoren. Oder von den halbstarken Jugendlichen des Ortes neulich, sie hatten die Hauptikone und ein paar alte Bücher gestohlen. Nie, schwor Rewas, habe es Geld für die Rückgabe der Schätze gegeben. Was ist dies auch gegen den Bannfluch des ganzen Dorfes? Den Jugendlichen etwa reichte seine blosse Androhung – am nächsten Morgen lag die Beute wieder auf ihrem Platz, zusammen mit fünf Litern Wein, einem Käsekuchen und einem Entschuldigungsbrief an Gott und das Dorf.

Wie geht er, dieser gewaltige Fluch? «Nicht hier vor den Heiligen», sagte Rewas und bat nach draussen. Er räusperte sich und flüsterte: «Wer auch immer es tat, soll dursten und hungern. Niemand mehr soll noch mit ihm sprechen. Wo er wohnt, sollen Dornen wachsen und Unkraut. Nimmer mehr soll Gott auf sie achten.»

Es hätte keines Priesters bedurft, er selbst, Rewas, hätte den Bannstrahl werfen können. Denn Rewas Chojewani ist der Herr des Schlüssels. Er hat ihn von seinem Onkel. Der ihn nicht etwa weitergab an seinen Sohn, sondern an ihn, den Neffen. Den Gläubigsten. Entscheidend war, dass der Schlüssel in der Familie blieb. Darum auch geht er nur an die Männer, Frauen können weggeheiratet werden.

Rewas war Maurer, für sein Wächteramt schulte er um auf Restaurator. «Aber das hätte gar nicht sein müssen», sagte er, «der Schlüssel ist seit tausend Jahren in unserer Familie, wir haben das Amt in den Adern.» Es klang, als würde schon das Erbe im Blut dafür sorgen. Warum nicht, an irgendetwas muss es ja liegen, dass es in Swanetien stets die besten Handwerker gab. «Guckt euch doch nur die Metallurgen an», sagte Rewas.

Seit dem 3. Jahrhundert vor Christus werden in Swanetien Eisenerz, Bronze, Kupfer gewonnen oder verarbeitet. Und bis in sagenhafte Zeiten reichen die Geschichten vom Königreich Kolchis, von den Argonauten und ihrer Suche nach dem Goldenen Vlies. Kolchis, das war auch hier. Oder ist es immer noch?

Die Goldsucher ernten den Glanz der Wellen

Vom Dorf Lachuschdi sind wir den Berg hinuntergerutscht, an Bäumen vorbei bis zum Enguri. Er reisst nicht, ist aber schlammig an seinen Ufern. Da hinein stach Besik Pirzchalani, 50 Jahre, seinen Spaten, den Schlamm warf er auf ein langes Brett im Fluss, bespannt mit verfilztem Schafsfell. Aufmerksam und vor Kälte zitternd beäugte der 24-jährige Teso Nikolosian den Modder. Die Wellen strichen darüber und wuschen ihn fort. Was im Fell hängen blieb, war Gold!

So machten sie es im Land vor unserer Zeit, und so machen es Besik und Teso und viele Swanen noch immer. Im Sommer bringen sie Mais und Kartoffeln ein, im Winter aber ernten sie den Glanz der Wellen. Von Oktober bis April stehen sie im eiskalten Fluss, vom ersten blassen Schimmer des Morgens bis zur Dunkelheit, am Ufer ein Feuerchen, das Füsse und Stiefel auftaut.

Ein halbes Gramm Gold, manchmal ein ganzes Gramm, das sei ihre Lese an guten Tagen, sagte Teso, sie tragen es zur nächsten Bank. Oder zum Zahnarzt, Besik bleckte seine vier vergoldeten Zähne. «Oft genug frieren wir uns aber die Eier umsonst ab», rief Besik, dem die Poetik antiker Sagen abgeht. Er lachte, dass die drei Gramm Gold im Mund leuchteten.

Teso aber schrie, er rief seinen Gefährten zu sich ans Brett. Wer es nicht weiss, hält die Krümel auf dem Fell für ärmlichen Kies. Nein, golden war das Vlies keineswegs. Doch Besik griff sich so einen Brösel, hielt ihn gegen die blasse Sonne – und plötzlich strahlte der Wald. Das glitzernde Körnchen Wahrheit, das in jeder Sage steckt, wir hatten es gefunden!

Die Trinksprüche stellen Gäste vor Herausforderungen

Wir stapften zurück ins Dorf, weiter nach Mestia, noch immer in den Klauen des swanetischen Winters. Die Sonne schien, kein gutes Zeichen: Schnee schmolz, es würde noch mehr Steinschlag die Strassen blockieren. Schneewehen verhüllten die Ränder steil abfallender Schluchten. Klappernde Minivans brachten Touristen zu aberwitzigen Geländetouren, zu eisblauen Seen, zu Gletschern. Pferdefuhrwerke und SUV verspritzten die «geliebte Erde Swanetiens». Chwitscha Tschartolani lachte, als er unsere verdreckten Gesichter sah.

Dann hob er zu singen an, mit ihm Atschiki, Bado, Anuri, Riho. Im Restaurant «Luschnu Qor» sangen sie von der «geliebten Erde Swanetiens», von der Mondgöttin Lile, von Ailio auf dem Berge und von Tamar, der georgischen Königin, fast ein Jahrtausend ist es seit ihrer Regentschaft her. Ein vielstimmiger Chor in allen Lagen. Keine falschen Töne, keine verpatzten Einsätze, kein Lied unter fünf Minuten. Und dann dieser Klang. Verstohlen spähte ich nach dem versteckten Rekorder, den Boxen. Nichts. «Wir sind schon ein wenig trunken», entschuldigten sie sich.

Die Männer hatten wir bereits auf Tante Dodas Beerdigung gesehen. Sie standen vor ihrem Haus unter dem Dach eines Holzschuppens, der Trauerchor, wo sie sangen, stundenlang, auch dort. Auch jetzt klangen die Lieder wehmütig, schwere, tief in die Seele fallende Melodien. War wieder jemand gestorben? «Ach was», rief Chwitscha, «heute ist mein Geburtstag, darum sind wir hier.» Grillierte Zicklein in Tomatensauce, Lammfleisch mit Bratkartoffeln, ofenheisse Chatschapuri. Und dazu Trinksprüche, der Chor weihte uns ein in ihre komplizierte Folge.

Schon nüchtern ist die Hierarchie der Toasts eine Herausforderung. Leider geschah unsere Unterweisung erst während des vierten Glases Wein und nach ein paar Tschatschas. Es war etwas mit Gott, den Erzengeln, den Heiligen, der Familie, den Verstorbenen, den noch nicht Geborenen, den Lebenden und hundert anderen, auf die angestossen werden sollte. Ich dachte: Hat schon jemals jemand ein georgisches Festessen bis zum Ende erlebt? Überlebt? Vielleicht ist der Trick, dass man wieder nüchtern ist, wenn der nächste endlose Spruch beginnt. Sprüche, nein: Reden. Es sind Geschichten. Womöglich wurzelt darin der literarische Erfolg der kleinen Nation.

Dann war ich dran. Es ist Ehre und Pflicht, die Gäste reden zu lassen. Auf keinen Fall sollte man Unsinn von sich geben, Banalitäten dreschen. Der Chor neigte seine Häupter mir zu, sämtliche Ohren schienen auf einmal doppelt gross. Ich spürte mein Erblassen. Ich wünschte, ich hätte Literatur studiert oder mehr getrunken. Auch Georgi, unser Dolmetscher, erbleichte. Er durfte bereits einige Deutsche bei Festen begleiten.

Ich lobte das Essen, die Getränke, die wunderbaren Menschen dieses Landes. Hatte ich schon etwas zum Essen gesagt? Die Natur, natürlich, die Berge, die Seen, wie wunderbar diese Wehrtürme, die Geschichte und erst das Essen Swanetiens. Georgi übersetzte.

Die Anwesenden lächelten, lachten, nickten zustimmend oder bewundernd. Komischerweise waren die Übersetzungen länger als meine Erläuterungen. Georgi fuchtelte dabei mit seinen Armen, riss die Augen auf, flüsterte und schrie. Ich hatte doch nur das Schaschlik gelobt. Am Ende klatschten alle. Georgi aber griff sein Glas und trank es auf einmal und ohne Trinkspruch leer.

Zum Abschied wurde wieder gesungen. Wieder wehten schwermütige, vielstimmige Klänge durchs Lokal. Chwitscha rannen Tränen übers Gesicht. Ich tippte auf ein Lied über die Härten der Zeit, über eine verlorene Liebe, über die Bürden des Alters, so etwas musste es sein. Die vierte Strophe, die fünfte, auch nach der siebten war noch nicht Schluss.

Was, Chwitscha, wurde da besungen? «Na was schon, es war ein Geburtstagslied auf mich», sagte er, «nichts Besonderes, jeder singt es zum Geburtstag.» Er wischte die letzte Träne fort. «Das habt ihr doch auch.» Diese epische Ballade – es war eine swanetische Entsprechung zu «Happy birthday to you».

Als der Uschba erstmals seine beiden Gipfel in ganzer Pracht entblösste, wagten wir den Ausfall. Ich blickte zurück auf Mestia, sah die Wehrtürme, Mauern und Berge, denen wir entkommen waren. Ein alter Mann mit Ochsen hielt uns auf und warnte vor dem Gesteinsbrocken hinter der nächsten Biegung. Ein Mädchen trieb Ziegen einen Pfad hinab, es sang. Hunde, gross wie kleine Bären, wedelten mit den Schwänzen, statt unsere Flucht zu vereiteln.

Tipp: www.georgia-insight.eu

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