Kriminellen, die mit Ermittlern kooperieren, soll Straffreiheit gewährt werden können. Solche Kronzeugenregelungen sind im Ausland äusserst effektiv. In der Schweiz stossen sie auf Widerstand.

Im November 2021 schlagen 180 Polizisten des Fedpol und aus mehreren Kantonen an verschiedenen Orten in der Schweiz zu: Sie verhaften sechs Personen, die im grossen Stil mit Drogen gehandelt haben und Teil des kalabrischen Mafiazweiges ’Ndrangheta sein sollen. Die Aktion ist eng mit den italienischen Ermittlern abgestimmt.

Abhörprotokolle der italienischen Polizei hatten nämlich gezeigt, wie die italienische Mafia die Schweiz als Basis nutzt. «Es geht ihnen in der Schweiz gut», berichtet ein ’Ndrangheta-Mitglied laut den Protokollen am Telefon nach Italien: Seine Cousins seien praktisch ohne Geld in die Schweiz gekommen und besässen nun einen Audi RS3 sowie andere Luxuswagen.

Die Strafverfolgungsbehörden der Schweiz beobachten seit langem, wie sich Mafiastrukturen hierzulande festsetzen. Nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren machte der Bundesanwalt Stefan Blättler den Kampf gegen die Mafia zum Schwerpunkt. Die Ermittlungen sind allerdings äusserst schwierig: Oft kommen zwar die einzelnen Straftaten ans Licht, nicht aber die Strukturen und die Köpfe dahinter.

«Die Cosa Nostra vergisst nie»

Blättler forderte diese Woche deshalb die Einführung eines Instrumentes, mit welchem in Italien und anderen Ländern bereits Hunderte von hohen Verbrecherbossen zur Strecke gebracht werden konnten – die Kronzeugenregelung. Eine Vereinbarung zwischen dem Staat und Kriminellen also, der sich auf eine einfache Formel herunterbrechen lässt: Aussage gegen Straffreiheit.

Rückblende ins Jahr 1984. Mit dramatischen Worten eröffnet damals in Palermo ein Mann mit dunkler Sonnenbrille sein Geständnis: «Ich sage Ihnen, Herr Richter: Nach diesem Verhör werden Sie berühmt sein. Aber Ihr Leben wird gezeichnet sein. Sie werden versuchen, Sie zu zerstören. Denn die Cosa Nostra vergisst nie», erklärt er. Und fährt dann fort: «Ich bin ein Mafioso.»

Der Mann ist Tommaso Buscetta, ein hoher sizilianischer Mafiaboss, der zuvor in Brasilien festgenommen und nach Italien ausgeliefert wurde. Und Buscetta packt richtig aus: Er liefert den italienischen Behörden umfassende Informationen über die inneren Strukturen der Cosa Nostra, über Operationen, Namen und Verstrickungen mit der italienischen Politik.

366 Mafiosi werden darauf festgenommen, und die Cosa Nostra wird stark geschwächt. Doch Buscetta singt nicht ohne Gegenleistung: Obwohl er mutmasslich selber mehrere Morde begangen hat, wird er kaum bestraft, erhält eine lebenslange Rente und wird ins amerikanische Witness-Security-Program aufgenommen. Im Jahre 2000 stirbt er in Florida. «Leute wie Buscetta ersparen uns jahrzehntelange Ermittlungen», soll ein italienischer Richter nach seinem Tod gesagt haben.

Ein Mord mit einer ferngesteuerten Bombe

Tommaso Buscettas Geständnis führt zu einer Serie von gigantischen Prozessen, bei denen mehrere hundert Mafiosi verurteilt werden. 1993 landet sogar der Pate aller Paten hinter Gittern: Salvatore «Toto» Riina. Mit seiner düsteren Prophezeiung sollte Buscetta aber recht behalten: Falcone wird zwar zum angesehensten Mafiajäger Italiens. Doch 1992 wird er mit einer ferngesteuerten Bombe ermordet.

Die italienischen Mafiaprozesse und der Aufstieg der kolumbianischen Drogenkartelle verändern zu dieser Zeit auch in der Schweiz die Sicht auf die Kriminalität. Der Kampf gegen das organisierte Verbrechen nimmt Fahrt auf. Die Politik verabschiedet die ersten Geldwäschereigesetze sowie neuartige Strafbestimmungen gegen das organisierte Verbrechen. «OK» – organisierte Kriminalität – ist das Thema der Stunde.

Ein Tessiner Politiker bringt im Ständerat in der Hitze des Gefechts eine Idee auf, die in der Schweiz bis dahin ein absolutes Tabu ist: eine Kronzeugenregelung nach amerikanischem oder italienischem Vorbild – wie sie Männer wie Buscetta zum Reden gebracht hat.

Doch bei aller Sorge über die Mafia stösst die Idee in der kleinen Kammer auf blankes Entsetzen. Die Kronzeugenregelung sei «ein unerträglicher Einbruch in das Schuldprinzip unseres Strafrechtes», so schimpft ein Rechtsprofessor. Er bringt damit auf den Punkt, was die Debatte bis heute prägt: Ist es fair, Kriminelle laufen zu lassen, nur weil sie ihre Komplizen verraten? Oder wird Gerechtigkeit dadurch zum verkäuflichen Gut?

Ausser dem Tessiner Politiker stimmte damals kein einziger Ständerat für die Kronzeugenregelung. Die Diskussion aber war lanciert, und sie würde in den folgenden dreissig Jahren nicht mehr abreissen: Carla del Ponte, Michael Lauber, Stefan Blättler – es gibt kaum einen Bundesanwalt, der seither nicht die Einführung einer Kronzeugenregelung gefordert hat. Immer wieder wird darüber im Bundesrat und im Parlament gestritten, ohne aber dass sich die Politik zu diesem Schritt durchringen kann.

Eine Kronzeugenregelung nach Schweizer Art

Nur sehr begrenzt kommt das Schweizer Recht Kronzeugen deshalb heute entgegen: Wer beispielsweise an einem Kartell beteiligt ist und sich selber bei den Behörden anzeigt, kann mit einer Reduktion oder sogar mit dem Erlass der Busse rechnen. So sieht es das Kartellgesetz seit 2004 vor. Heute trägt diese Regel entscheidend zur Aufdeckung von Kartellabreden bei.

Auch das Strafgesetzbuch sieht seit Mitte der 1990er Jahre eine sogenannte «kleine Kronzeugenregelung» vor: «Der Richter kann die Strafe mildern, wenn der Täter sich bemüht, die weitere verbrecherische Tätigkeit der Organisation zu verhindern», heisst es in der Strafbestimmung über kriminelle und terroristische Organisationen.

Viele Staatsanwälte bezweifeln aber, dass diese Regel wirklich effizient ist. Denn die Strafmilderung ist fakultativ, und zuständig ist das Gericht. Verbindliche Abkommen zwischen Strafverfolgungsbehörden und Kronzeugen sind deshalb kaum möglich. Mafiosi liessen sich dadurch nicht zu einem Frontwechsel motivieren, sagen Fachleute.

Manchen Juristen dreht sich der Magen um

Ausserdem greift die Regelung nicht immer: Mitglieder krimineller Organisationen, die sich gleichzeitig schwerer Verbrechen wie Menschenhandel oder Mord schuldig gemacht haben, können davon nicht profitieren.

Gerade bei dem Gedanken, dass Mörder, Menschenhändler oder Bosse von Pädophilenringen straflos bleiben könnten, dreht sich bei vielen Politikern und Juristen der Magen um. Sie stören sich daran, dass von einer Kronzeugenregelung nicht unbedingt kleine Fische profitieren. Sondern das mittlere Kader und die einflussreichen Hintermänner, deren Aussagen für die Polizei besonders interessant sind. Solche Verbrecher dürften im Rechtsstaat nicht von Tätern zu Instrumenten der Anklage gemacht werden, argumentieren sie.

Für den Bundesanwalt Blättler ist das Instrument jedoch notwendig, wenn die Strafjustiz nicht an ihre Grenzen kommen soll. Er werde an dieser Forderung weiterhin festhalten, sagte er am Donnerstag. Die nächste Runde im jahrzehntelangen Streit über die Wahl der richtigen Mittel bei der Verbrechensbekämpfung ist damit eingeläutet. Erst kürzlich hat der Ständerat beschlossen, die Kronzeugenregelung zumindest erneut prüfen zu lassen – mit 22 zu 16 Stimmen.

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