Montag, Oktober 7

Die Regierung folgt dem Parlament und ist der Ansicht, dass der EGMR in seinem Urteil gegen die Schweiz zu weit gegangen sei.

Der Bundesrat ignoriert das Klima-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Natürlich steht das nirgends so deutlich in der offiziellen Kommunikation geschrieben. Aber die Medienmitteilung, die der Bundesrat nach seiner Sitzung am Mittwoch publiziert hat, lässt keine Zweifel offen. Die Botschaft aus Bundesbern an die Richter in Strassburg: Nicht mit uns!

Selbstverständlich bekenne man sich zur Mitgliedschaft im Europarat – und damit auch zu der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), schreibt der Bundesrat. Wohlwissend, dass die Schweiz den internationalen Vergleich nicht scheuen muss, wenn es darum geht, die Grund- und Menschenrechte einzuhalten.

«Souveräner Staat»

Umso erstaunter zeigte sich der Bundesrat aber, dass die Richter in Strassburg die Menschenrechte wie etwa den Schutz vor Folter nun auf den Schutz vor den Auswirkungen des Klimawandels ausgeweitet hätten. Die Rechtsprechung, so die deutliche Kritik, dürfe nicht zu einer Ausweitung des Geltungsbereichs der Menschenrechtskonvention führen. Zur Erinnerung: Der EGMR hatte im vergangenen April die Schweiz dafür verantwortlich gemacht, ältere Frauen nicht ausreichend vor der Klimaerwärmung zu schützen.

Ebenso deutlich wirft der Bundesrat nun Strassburg vor, bestimmte Schritte in der hiesigen Klimapolitik erst gar nicht berücksichtigt zu haben. Damit meint er unter anderem das Klimagesetz, das ein Netto-Null-Ziel für 2050 vorgibt, ebenso Durchschnittsziele ab 2031. Die Änderung des CO2-Gesetzes, mit der das Parlament den klimapolitischen Übergang bis 2030 festgelegt hatte, werde ebenfalls nicht berücksichtigt. Ebenso wenig das Stromgesetz, das auf den Ausbau von erneuerbaren Energien setzt. «Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Schweiz die klimapolitischen Anforderungen des Urteils erfüllt.»

Damit folgt die Regierung dem Parlament. Beide Räte hatten vor dem Sommer grossmehrheitlich eine Erklärung verabschiedet, wonach der Bundesrat aufgefordert wird, dem Urteil aus Strassburg keine Folge zu leisten. Beat Rieder zeigt sich nun entsprechend zufrieden mit der Reaktion des Bundesrats. «Die Regierung macht damit klar, dass die Schweiz ein souveräner Staat ist, wo nach wie vor das Parlament, das Volk und die Stände die Gesetze machen – und nicht die EGMR-Richter.»

Der Walliser Mitte-Ständerat gilt als Urheber der parlamentarischen Erklärung. Gemeinsam mit dem Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch ist es ihm gelungen, das staatspolitische Argumentarium vorzuspuren. Der Bundesrat unter Federführung von Umweltminister Albert Rösti konnte sich nun auf die Erklärung abstützen.

Nebst den Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie Greenpeace, die die Klimaseniorinnen für ihre eigenen politischen Zwecke lediglich vorgeschoben hatten, gehört vor allem Beat Jans zu den grossen Verlierern dieser denkwürdigen Episode. Der Justizminister hat sich von Beginn an deutlich hinter das Urteil aus Strassburg und somit auch gegen Albert Rösti gestellt. «Warum diese Aufregung um das EGMR-Urteil?», fragte Jans in seiner 1.-Mai-Ansprache auf dem Bundesplatz. «Ich will den Kritikern dieses Urteils nicht die Rösti versalzen, aber: Das war kein Entscheid gegen die Schweizer Bevölkerung, sondern ein Entscheid für die Schweizer Bevölkerung.»

Nun ist klar, dass nicht nur die eidgenössischen Räte, sondern auch Jans’ Bundesratskollegen zu einem ganz anderen Schluss gelangt sind. Dass man zu diesem breit beachteten Dossier keine Pressekonferenz veranstaltet hat, lässt darauf schliessen, dass man dem SP-Bundesrat die Schmach ersparen wollte. Tönt nett, ist aber für den amtsjüngsten Bundesrat besonders hart: Erbarmen ist die Höchststrafe in Bundesbern. Jans hat in einem für ihn und seine Partei ideell wichtigen Dossier den internen Machtkampf gegen Rösti verloren.

Dass der Bundesrat dem Justizminister hilft, das Gesicht zu wahren, hat auch taktische Gründe. Es ist Jans’ Justizdepartement, das dem Ministerkomitee des Europarats nun glaubhaft mitteilen muss, dass der Bundesrat erst gar nicht daran denkt, dem Urteil weiter Folge zu leisten. Das EJPD werde Strassburg «über die Haltung des Bundesrats und jene des Parlaments informieren und auf die jüngsten Entwicklungen in der klima- und energiepolitischen Gesetzgebung hinweisen», heisst es dazu in der Mitteilung.

Keine Erweiterung des Verbandsbeschwerderechts

Der Bundesrat zieht aus dem EGMR-Urteil einen weiteren Schluss, der nicht weniger bemerkenswert ist und zeigt, dass er die eigentliche Tragweite sehr wohl erkannt hat. Die Regierung kritisiert explizit den Entscheid der Richter, mit den Klimaseniorinnen einen Verein zu einer Klima-Klage zugelassen zu haben. Dies entspreche faktisch einer «Erweiterung des Verbandsbeschwerderechts auf Klimafragen», die man ablehne.

Man sei der Ansicht, dass die «Realisierung dringend nötiger Infrastruktur» dadurch weiter erschwert werden könnte. Konkret warnt der Bundesrat davor, dass der Staat am Ausbau etwa des Strassennetzes oder der Stromproduktion mit dem klimapolitischen Vorwand der Menschenrechte gehindert werden könnte.

Weil es Greenpeace nicht gelang, den Bundesrat mithilfe der Strassburger Richter in die Knie zu zwingen, versucht man es in einer ersten Reaktion auf dem wissenschaftlichen Weg. Man fordere eine «unabhängige wissenschaftliche Analyse des nationalen CO2-Budgets, das mit dem global noch verbleibenden CO2-Budget für die Einhaltung des 1,5-°C-Limits abgestimmt ist», teilte Greenpeace nach dem bundesrätlichen Entscheid mit.

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