Sonntag, Oktober 6

Die Sozialministerin sagt, warum man von der BVG-Reform keine Wunder erwarten dürfe. Zudem spricht sie über die aggressive Kampagne der Gewerkschaften – sowie ihren angeblich geringen Einfluss in der Regierung.

Frau Baume-Schneider, was sagen Sie einer Person, die das ganze Leben gearbeitet hat und trotzdem befürchtet, dass die Rente im Alter nicht reicht? Sind solche Sorgen in der reichen Schweiz berechtigt?

Ich verstehe diese Sorgen: Bald steigen wieder die Prämien für die Krankenkassen, und die Mieten werden ebenfalls ständig teurer. Viele Leute sind wohl nicht primär wegen der Rente verunsichert, die sie vielleicht in zwanzig, dreissig Jahren beziehen werden. Sie fragen sich, wie sie heute und morgen finanziell über die Runden kommen. Schon bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente war die Kaufkraft ein wichtiges Thema.

In der Rentendebatte ist der Ton ziemlich aggressiv geworden. Die Gewerkschaften sprechen bei der anstehenden Reform der beruflichen Vorsorge gar von einem «BVG-Bschiss». Wird mit diesem Vorwurf des Betrugs eine rote Linie überschritten?

Leidenschaftliche Diskussionen gehören zu unseren Abstimmungen. Doch gerade bei diesem komplexen Thema führt Schwarz-Weiss-Denken nicht weiter. Die Menschen verdienen es, dass man präzis und differenziert bleibt. Das Wort «Bschiss» ist leider nicht sehr nuanciert. In der schweizerischen Politik spielen aber genau diese Nuancen eine wichtige Rolle.

Ein wichtiges Ziel der Reform ist es, den tieferen Einkommensschichten eine bessere Rente zu ermöglichen. Das müssen sie aber mit höheren Lohnabzügen bezahlen, womit der Nettolohn sinkt. Kurzfristig ist das für diese Personen ein schlechter Deal.

Nein, denn der Arbeitgeber bezahlt ja ebenfalls seinen Anteil an das Alterskapital. Hinzu kommt die Anlagerendite, der dritte Beitragszahler. Ich verstehe aber, dass es für Beschäftigte mit einem kleinen Lohn schwierig ist, wenn die Lohnabzüge steigen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass die Reform auch für viele Frauen mit tieferen Einkommen eine Verbesserung bedeutet: Denn heute haben sie im Ruhestand oft nur die AHV und deshalb eine zu kleine Rente.

Die Reform will das Rentenniveau erhalten. Trotzdem wird es auch Verlierer geben.

Diese Modelle, welche die Versicherten in Gewinner und Verlierer einteilen, erachte ich als problematisch. Denn die Annahmen haben oft wenig mit dem realen Leben zu tun. Wer in jungen Jahren in einem Job mit tiefem Lohn arbeitet, macht später vielleicht eine Weiterbildung, verdient mehr und kann in der zweiten Säule mehr sparen. Aber ja, in gewissen Fällen kann die Reform zu sinkenden Renten führen.

Wer verliert?

Das kann man nicht so pauschal sagen. Aber tendenziell sind es nicht die sehr tiefen Einkommen, sondern am ehesten solche im Bereich zwischen etwa 70 000 und 88 000 Franken.

Sie haben die Reform als Verbesserung für viele Frauen bezeichnet. Die Gewerkschaften widersprechen: Sie bezeichnen die Vorlage als «Mogelpackung für die Frauen».

Bei dieser Diskussion muss man auf die Entstehung der Reform eingehen: Ursprünglich entstand sie aus einem Kompromissvorschlag zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Im Parlament kam es dann zu verschiedenen Änderungen, so dass die Leistungen in der vorliegenden Fassung nicht mehr dem Kompromiss der Sozialpartner entsprechen. Doch was passiert, wenn man diese Vorlage nun ablehnt? Wir können dann nicht einfach einen neuen Kompromiss herbeizaubern – und es wird auch keine Wunder geben. Unter dem Strich ist klar: Diese Reform verbessert die Absicherung der Menschen mit tiefen Löhnen.

Die tieferen Renten der Frauen wird die Reform kaum ausgleichen können.

Es stimmt, der sogenannte Gender-Pension-Gap wird nicht einfach verschwinden. Frauen haben durchschnittlich eine rund 16 000 Franken tiefere Rente als Männer. Doch dies liegt nicht primär an der zweiten Säule, sondern an unseren gesellschaftlichen Strukturen. Frauen arbeiten eher in Tieflohnbereichen – leider immer noch. Und wenn ein junges Ehepaar ein Kind hat, so sind es meistens weiterhin die Frauen, die ihr Arbeitspensum reduzieren und deshalb weniger verdienen. Immerhin senkt die Reform jetzt die Eintrittsschwelle für die berufliche Vorsorge, so dass etwa 70 000 Personen zusätzlich versichert sind.

Die Reformgegner behaupten, von der zweiten Säule profitiere in erster Linie die Finanzindustrie durch überhöhte Gebühren. Was sagen Sie dazu?

Ich bin nicht die Anwältin der Pensionskassen. Ich kann verstehen, dass manche denken, dass hier Milliardenbeträge für Gebühren weggehen. Man muss diese Summen aber ins Verhältnis zum gesamten Sparkapital in der zweiten Säule setzen, welches inzwischen weit über 1000 Milliarden Franken erreicht. Zudem haben wir die Transparenz und die Kontrollen deutlich verbessert. Unsere Analysen zeigen, dass die Kosten und Gebühren mit 0,5 Prozent des Anlagevermögens insgesamt in einem sehr vernünftigen Rahmen liegen.

Die BVG-Abstimmung steht auf der Kippe, und die letzte erfolgreiche Reform der zweiten Säule fand vor zwanzig Jahren statt. Ist unser Vorsorgesystem überhaupt noch reformierbar?

Klar, aber es ist ein schwieriges Dossier. Unabhängig davon, wie die Abstimmung am 22. September ausgeht, sehe ich meine Aufgabe darin, die festgefahrenen politischen Fronten wieder in Bewegung zu bringen. Wenn alle auf ihren Positionen verharren, erzielen wir keine Fortschritte. Auch der anfängliche Kompromiss der Sozialpartner war nicht perfekt, aber er stellte immerhin eine gute Ausgangsbasis dar.

Sie bedauern, dass dieser Vorschlag, der unter anderem für die Übergangsgeneration höhere Zuschüsse vorsah, keinen Bestand hatte?

Das Parlament wollte diese Änderungen. Mit dem ursprünglichen Modell würde die aktuelle Diskussion wohl anders verlaufen.

Unsere Konkordanzdemokratie lebt davon, dass oppositionelle Kräfte in die Regierung eingebunden werden. Doch die Gewerkschaften unter dem Präsidenten Pierre-Yves Maillard treten zunehmend radikaler auf. Weshalb gelingt es Ihnen nicht, hier einen mässigenden Einfluss auszuüben?

Wollen Sie sagen, ich solle häufiger das Telefon in die Hand nehmen und mit Herrn Maillard ein energisches Gespräch führen? So funktioniert das nicht, denn es ist komplizierter: Zwar stimmt es, dass die Gewerkschaften bei der Abstimmung zur 13. AHV-Rente eine grosse Präsenz hatten. Daneben aber gibt es zahlreiche weitere politische Akteure. Man kann sich durchaus fragen, warum sich viele von diesen ausgesprochen stark zurückhielten.

Gehört es nicht zu Ihren Aufgaben als Bundesrätin, einer zunehmenden gesellschaftlichen Polarisierung entgegenzuwirken?

Natürlich, und darum bemühe ich mich jeden Tag. Doch diese Polarisierung kann man in sehr vielen Bereichen beobachten, sie geht keineswegs nur von den Gewerkschaften aus. Zudem ist es kein Geheimnis, wo meine politischen Wurzeln liegen: Ich gehöre zur Sozialdemokratischen Partei, wurde in der Frauenbewegung sozialisiert und vertrete mit dem Kanton Jura eine Region, die in der Schweiz eine Minderheit darstellt. Dieses Profil vertrete ich auch in der Landesregierung.

Hat sich Ihr Verhältnis zu Pierre-Yves Maillard durch die harten Abstimmungskämpfe verändert?

Nein, überhaupt nicht. Ich kenne und schätze Pierre-Yves Maillard schon sehr lange. Er macht einfach seine Arbeit.

Was stimmt eigentlich Ihr Mann bei der BVG-Reform? Der ist ja etwas linker als Sie.

Ich schaue nicht in sein Couvert!

Elisabeth Baume-Schneider

Die 60-jährige SP-Politikerin wurde 2022 in den Bundesrat gewählt. Zunächst übernahm sie das Justizdepartement und wechselte per Anfang 2024 ins Departement des Innern. Zuvor war sie 13 Jahre Regierungsrätin im Kanton Jura und sass von 2019 bis 2022 im Ständerat. Elisabeth Baume-Schneider ist verheiratet und hat zwei Söhne.

Die Gewerkschaften, SP und Grüne sind auch nicht zufrieden mit Ihren Plänen zur Finanzierung der 13. AHV-Rente. Der Bundesrat möchte allein die Mehrwertsteuer erhöhen. Die Linken fordern höhere Lohnabgaben. Warum kommen Sie den Abstimmungssiegern nicht mehr entgegen?

Im Bundesrat haben wir über die Finanzierung diskutiert und dann entschieden. Für mich ist das Wichtigste, dass wir die 13. AHV-Rente jetzt rasch finanzieren. Das Schlimmste wäre, wenn wir zuwarten würden. Der Bundesrat hat immer gesagt: Diese Rente hat einen Preis, und wir müssen ihn bezahlen.

Warum wollen Sie mit der Finanzierung der 13. Rente nicht zuwarten, um diese mit der nächsten grossen AHV-Reform zu verknüpfen, wie dies SVP und FDP vorschlagen?

Das halte ich für verantwortungslos. Wenn wir die Finanzierung der 13. AHV-Rente aufschieben und die Reserven der AHV aufzehren, stehen wir bei der nächsten AHV-Reform noch stärker unter Druck.

Sie wollen die nächste grosse AHV-Reform erst Ende 2026 vorlegen. Angesichts der Dringlichkeit könnten Sie den Prozess doch beschleunigen.

Ja, klar: Warum nicht einfach ein paar Formeln aus dem Hut zaubern? Nein, im Ernst: Es geht hier um sehr wichtige Fragen. Die Renten sind für viele Menschen entscheidend. Wir müssen eine Reform sorgfältig aufgleisen. Wir können den Prozess nicht einfach so beschleunigen.

Können Sie uns wenigstens verraten, in welche Richtung Sie steuern? Eigentlich gibt es ja nur drei Varianten: Der Bund zieht mehr Geld ein, die Rentenleistungen werden reduziert, oder die Menschen arbeiten länger.

Sie haben recht, es gibt nicht unzählige Möglichkeiten. Aber doch verschiedene Varianten. Um die Einnahmen zu vergrössern, können wir zum Beispiel die Mehrwertsteuer oder die Lohnbeiträge erhöhen oder eine Finanztransaktionssteuer einführen. Auch beim Rentenalter gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wir können das Rentenalter erhöhen oder weiter flexibilisieren. Was für mich nicht infrage kommt, ist ein Rentenabbau. Die Bevölkerung hat sich ja eben erst für eine zusätzliche Monatsrente ausgesprochen.

Werden wir in Zukunft länger arbeiten müssen?

Wir haben vor kurzem über eine Initiative abgestimmt, die das Rentenalter erhöhen wollte. Das Anliegen wurde klar abgelehnt. Das Rentenalter 65 ist für mich eine wichtige Referenz. Aber wenn ein Akademiker nach seinem Studium erst mit 28 Jahren ins Berufsleben einsteigt und in der Lage ist, länger zu arbeiten, warum nicht?

Das heisst, Sie wären offen für ein Lebensarbeitszeitmodell, bei dem die Anzahl Berufsjahre ausschlaggebend ist?

Eine weitere Flexibilisierung des Rentenalters ist für mich kein Tabu. Es kann durchaus sinnvoll sein, die Beitragsjahre zu zählen. Wenn jemand nach der Berufslehre bereits in jungen Jahren Beiträge zahlt, könnte man dies berücksichtigen.

Immer mehr Rentner stehen immer weniger Beschäftigten gegenüber. Wenn jetzt keine Reform gelingt, müssen die Jungen eine grössere Last schultern.

Ich glaube, wir sollten die Generationen nicht gegeneinander ausspielen. Ich habe bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente mit älteren Menschen gesprochen, die Nein stimmten, weil sie ihre Enkel nicht belasten wollten. Die Menschen leben immer länger, das stimmt. Aber es sind nicht die Jungen, die dafür bezahlen müssen, sondern die Gesellschaft als Ganzes.

Sie treten in diesem Jahr schon zum dritten Mal an der Urne gegen Ihre eigene Partei an. Fühlen Sie sich nur noch als halbe SP-Bundesrätin?

Nein, überhaupt nicht. Ich wüsste nicht, was meine andere Hälfte sein sollte! Ich bin eine linke Frau, der die soziale Gerechtigkeit sehr am Herzen liegt. Und dann bin ich auch noch eine Bundesrätin, die für die gesamte Bevölkerung da ist und Entscheide des Gremiums kollegial mitträgt.

Im Bundesrat haben die Bürgerlichen die Mehrheit. Können Sie Ihre linken Positionen überhaupt einbringen?

Ja, es gibt viele Möglichkeiten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Nächste Woche wird die Inklusionsinitiative eingereicht, die ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderungen fordert. Da werde ich meine Werte bei der Beratung sehr bestimmt einbringen.

Es gibt dominantere und es gibt ruhigere Bundesräte. In der Öffentlichkeit zählt man Sie eher zu den ruhigeren, möglicherweise auch zu den weniger einflussreichen. Können Sie damit leben?

Sie drücken sich sehr diplomatisch aus, ich danke Ihnen. Aber warum sagen Sie nicht direkt, dass ich bei den Bundesrat-Rankings regelmässig an letzter Stelle liege? Das wäre doch einfacher!

Bitte.

Natürlich freuen mich diese Umfragen nicht. Gleichzeitig weiss ich, wer ich bin, was ich leiste, wo ich Erfolge erziele, etwa beim neuen Arzttarif Tardoc, und welches Vertrauen ich in meinem Departement geniesse. Es ist mir wichtiger, dass wir als Bundesratsgremium gut funktionieren, als dass ich besonders wahrgenommen werde. Das Kollektiv ist wichtiger als der Einzelne.

Wie erklären Sie sich, dass Ihnen wenig Einfluss zugeschrieben wird?

Das ist eine schwierige Frage. Wenn man sich als Frau erklärt, entsteht rasch der Eindruck, dass man jammert oder sich beklagt. Ich habe es schon mehrmals gesagt: Meine Wahl war unerwartet, aber sie war kein Zufall. Ich habe als Erziehungsdirektorin und als Ständerätin Beziehungen aufgebaut. Die Mitglieder der Bundesversammlung wussten, wen sie wählten. In der Deutschschweiz allerdings kannte mich die Bevölkerung bei der Wahl nicht so gut wie in der Romandie.

Wir haben über das Rentenalter gesprochen: Sie sind jetzt 60 Jahre alt. Reichen Ihnen die nächsten fünf Jahre, um die langfristigen Reformen in Ihrem Departement anzugehen – oder werden Sie länger arbeiten?

Ich habe immer gesagt, dass ich mit 70 Jahren nicht mehr Bundesrätin sein werde. Auch für mich gilt: Das Rentenalter 65 ist eine wichtige Referenz, mit der Möglichkeit zur Flexibilisierung. Grosse Reformen dauern natürlich länger als fünf Jahre, eher zehn oder fünfzehn. Mein Ziel ist es, dass ich wichtige Pfeiler einschlagen kann.

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