Samstag, September 28

Nach der Corona-Pandemie hat die Einwanderung in der Schweiz stark zugelegt. Das spiegelt die Attraktivität des Landes, stösst aber innenpolitisch auf Widerstand. Eine Wohlstandsinsel ohne bedeutende Einwanderung wird auf Dauer kaum zu haben sein.

Erfolg hat seinen Preis. Die Schweiz ist wirtschaftlich sehr erfolgreich. Illustrationen davon sind relativ hohe Löhne, tiefe Arbeitslosigkeit und eine hohe Lebenserwartung. Ein Effekt des Erfolgs ist nebst dem teuren Franken auch die hohe Einwanderung. Nach dem Ende der Corona-Pandemie gab es Nachholbedarf und einen Einwanderungsschub. 2023 betrug die Nettoeinwanderung in die ständige und nicht-ständige Bevölkerung 102 000 Personen (ohne Flüchtlinge); rund 70 Prozent entfielen auf EU-Zuwanderer. Die Zuwanderung lag deutlich über dem dem Höchststand der letzten Jahrzehnte von knapp 90 000 im Jahr 2013 (vgl. Grafik). Die bisherige Entwicklung von 2024 deutet auf ein ähnliches Einwanderungsniveau wie 2023.

Ein Resultat der starken Einwanderung zu Beginn der 2010er-Jahre war der Erfolg der SVP-Einwanderungsinitiative an der Urne 2014. Bei getreulicher Umsetzung der Initiative hätte die Schweiz das Abkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit kündigen müssen. Doch das Abkommen gibt es immer noch, weil das Parlament die Einwanderungsinitiative nicht umsetzen wollte und das Volk später eine Kündigungsinitiative ablehnte.

Der Bundesrat weiss aber, dass die Personenfreizügigkeit mit der EU politisch gefährdet bleibt. Zurzeit muss sich die Regierung mit der jüngsten Einwanderungsinitiative der SVP auseinandersetzen. Die im April eingereichte Initiative verlangt, dass die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz vor 2050 nicht über 10 Millionen steigt; und nach 2050 dürfte der Grenzwert nur im Ausmass des Geburtenüberschusses zunehmen. Bei Überschreiten des Grenzwerts vor 2050 wäre laut der Initiative unter anderem das Abkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit zu kündigen.

Weitreichende Folgen

Ende 2023 zählte die Schweiz knapp 9 Millionen ständige Einwohner. Gemäss dem Referenzszenario der Bundesstatistiker dürfte das Land zwischen 2035 und 2040 die 10-Millionen-Marke übersteigen. Unterstellt ist dabei eine Nettoeinwandung pro Jahr von zunächst 0,6 Prozent der Bevölkerung, später abnehmend bis auf 0,3 Prozent. In absoluten Zahlen entspräche dies einer jährlichen Nettoeinwanderung von zunächst etwa 55 000 Personen, abnehmend auf bis zu 30 000. Der deklarierte Hauptgrund für die Annahme eines Einwanderungsrückgangs: Angesichts der Alterung der Bevölkerung hätten auch andere Länder wie die Schweiz zunehmend mit einem Arbeitskräftemangel zu kämpfen, was das Wanderungspotenzial senke.

Die Volksinitiative zur 10-Millionen-Schweiz ist politisch raffiniert gestrickt, weil sie den verlangten Knall (Kündigung der Personenfreizügigkeit) auf eine scheinbar weit entfernte Zukunft verlegt; Probleme in ferner Zukunft wiegen psychologisch viel weniger schwer als gleich grosse Probleme hier und jetzt. Doch die Initiative ist weitreichend: Will die Schweiz bis 2050 unterhalb der 10-Millionen-Grenze bleiben, dürfte die Nettoeinwanderung bis dann im Mittel pro Jahr nur noch etwa 15 000 bis 20 000 Personen ausmachen. Und danach wäre kaum mehr eine Nettozuwanderung zulässig.

Treiber des Wachstums

Seit Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU 2002 ist die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz von 7,3 auf fast 9 Millionen gewachsen. Etwa vier Fünftel des Anstiegs waren durch die Einwanderung bedingt. Die Folgen der Personenfreizügigkeit auf den Arbeitsmarkt im Inland sind Gegenstand von jährlichen Berichten der Bundesverwaltung. Die typische Tonalität dieser Berichte geht etwa so: Die EU-Einwanderung sei stark auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts ausgerichtet, es könne etwa in Grenzregionen und gewissen Tätigkeiten auch Verlierer geben, doch ein breiter Druck auf die Löhne und eine breite Verdrängung von Inländern durch Einwanderer seien nicht sichtbar. Und insgesamt habe die EU-Einwanderung nicht nur das absolute Wirtschaftswachstum gefördert, sondern in abgeschwächter Form auch das Wachstum pro Einwohner.

Auch die am Montag publizierte neuste Auflage und die Präsentationen dazu vor den Medien in Bern waren durch eine ähnliche Tonalität geprägt. Löhne und Arbeitslosigkeit spielen im jüngsten Bericht indes eine relativ kleine Rolle, denn die Angst um Arbeitsplatz und vor Lohndruck steht derzeit nicht im Vordergrund. Die Zahl der offenen Stellen war in den letzten ein bis zwei Jahren ungewöhnlich hoch, die Klagen von Arbeitgebern über eine Knappheit an qualifizierten Arbeitskräften sind seit 2022 so stark verbreitet wie nie in den letzten zwanzig Jahren, und gemäss den jährlichen Befragungen zum Sorgenbarometer spielte die Ausländerfrage zuletzt eine geringere Rolle als im vergangenen Jahrzehnt.

2023 kamen laut dem jüngsten Bundesbericht 71 Prozent der EU-Einwanderer zu Arbeitszwecken in die Schweiz. Zwei weitere Treiber waren der Familiennachzug (18 Prozent) und Ausbildungszwecke (7 Prozent). 87 Prozent der EU-Einwanderer aus den letzten sieben Jahren sind auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitgeber beschäftigen Einwanderer aller Ausbildungsstufen. 2023 brachten knapp die Hälfte der EU-Einwanderer im Erwerbsalter einen Bildungsabschluss auf Tertiärstufe mit. Rund ein Fünftel hatte dagegen gar keinen Bildungsabschluss auf nachobligatorischer Stufe. Vereinfacht gesagt: Die erstgenannte Gruppe übernimmt Tätigkeiten, die nicht genug Inländer machen können, und die zweitgenannte Gruppe übernimmt Stellen, die nicht genug Schweizer ausfüllen wollen.

Inlandpotenzial ist beschränkt

Ein internationaler Vergleich des Bundes zeigt einen deutlichen statistischen Zusammenhang: Ein höheres Wachstum der Arbeitsplätze geht einher mit höherer Einwanderung. Die Kausalität kann dabei gleichzeitig in beide Richtungen gehen. Im Vergleich zu Ländern wie Österreich, Belgien, Niederlande und Norwegen deckte die Schweiz einen grösseren Anteil des Stellenwachstum seit 2005 durch Einwanderer ab; die Vergleichsstaaten konnten die Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials stärker steigern. Hauptgrund dieser Diskrepanz laut dem Bericht: Die Schweiz habe das inländische Arbeitskräftepotenzial schon vor zwanzig Jahren relativ stark ausgeschöpft. 2023 lag die Erwerbstätigenquote der 15 bis 64-Jährigen in der Schweiz mit 82 Prozent immer noch deutlich über dem EU-Durchschnitt von 71 Prozent.

Die Zahl der 15 bis 64-Jährigen Inländer wird laut Bundesprognosen bis 2025 im Mittel um etwa 0,2 Prozent pro Jahr sinken. Über zehn Jahre summiert sich dies auf rund 200 000 Personen. Die seit langem meistgenannten inländischen Potenziale liegen bei den Älteren und den Frauen. Die potenziell effizienteste Einzelmassnahme wäre die Erhöhung des ordentlichen Rentenalters, doch dies war bisher nicht mehrheitsfähig. Im Frauendossier diskutiert das Parlament über eine Ausdehnung der Subventionen für die externe Kinderbetreuung. 2023 waren indes bereits rund 80 Prozent der 15- bis 64-jährigen Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Viele arbeiten Teilzeit. Ausgedrückt in Vollzeitäquivalenten beträgt die Erwerbsquote der Frauen rund 60 Prozent.

Der Wink der Briten

Wie stark wäre die Einwanderung ohne Personenfreizügigkeit mit der EU gestiegen? Die Antwort kann keiner kennen, doch Hinweise liefert die Entwicklung im Vereinigten Königreich, das 2016 den Austritt aus der EU beschloss, und diesen Austritt 2020 vollzog. Als Folge davon ist die Einwanderung aus der EU stark zurückgegangen, doch im Gegenzug hat die Zuwanderung aus Drittländern klar zugelegt.

Sonderfaktoren wie die Ukraine-Flüchtlinge verzerren die Statistiken. Doch britische Analysen deuten derzeit nicht darauf, dass die Nettoeinwanderung als Folge des EU-Austritts stark gesunken wäre. Eine Senkung wäre vor allem dann zu erwarten, wenn sich mittelfristig das Bild der bisherigen Daten und Prognosen über wirtschaftliche Einbussen als Folge des Austrittsentscheids erhärtet. Für die Schweiz gilt im Prinzip die gleiche Ironie: Wenn die Kritiker recht haben, dass die Abschaffung der Personenfreizügigkeit wirtschaftlich kaum schadet, dürfte ein solcher Schritt die Einwanderung kaum stark reduzieren. Anders gesagt: Der sicherste Weg zur Senkung der Einwanderung ist ein Einbruch der Wirtschaft.

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