Freitag, Januar 10

In den neunziger Jahren wurde der Roman «Die schöne Frau Seidenman» des Polen Andrzej Szczypiorski über die deutsche Judenverfolgung zum internationalen Bestseller. Nun rollt Mikolaj Lozinski das Thema neu auf.

Schnell lernen wir sie lieben, die Familie Stramer: den Vater Nathan, die Mutter Rywka und ihre sechs Kinder. Sie leben in der polnischen Kleinstadt Tarnow, in einer winzigen Parterrewohnung, wo sie sich Tisch und Betten teilen. Die Armut lastet schwer auf ihnen. Gäbe es nicht den Onkel Ben in New York, der regelmässig Geld schickt, sie stünden auf der Strasse.

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat auch Nathan sein Glück in Amerika gesucht, kehrte aber aus Heimweh zurück. Geblieben sind ihm nur amerikanische Redewendungen und Flüche, die er bei Bedarf in sein Jiddisch mischt. Doch einen Geschäftssinn lässt er vermissen. Die Kerzen, die er einkauft, haben keine Dochte, das kleine Café, das er eröffnet, bringt es nur auf wenige Kunden, und diese sitzen zu lange, so dass Nathan aus Ärger die Vorderbeine der Stühle kürzt. Auch die Arbeit bei einer Versicherungsgesellschaft wird zum Fiasko. Und als alle Bemühungen zunichte sind, legt sich der Hausherr «mit Magenkatarrh» ins Bett, was signalisiert: Lasst mich in Ruhe.

Wer kann, flieht

Die Mutter Rywka malocht, und die Kinder wachsen früh in die Selbständigkeit hinein: der praktisch begabte Rudek, der intellektuelle Salek, die schöne Rena, der liebestolle, dandyhafte Hesio, der lernfaule Nusek und die schüchterne Wela. Mit ihren Vorlieben und Macken könnten sie unterschiedlicher nicht sein, hinzu kommen die Zeitumstände, die sich schnell wandeln.

In der Ära von Jozef Pilsudski werden Salek und Hesio zu Kommunisten und landen prompt im Gefängnis. Salek kämpft später bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, überlebt, beteiligt sich später im besetzten Paris an der Résistance, bis er fliehen muss. Wohin, erfahren wir nicht. Andere Geschwister verschlägt es nach Krakau. Mit dem erstarkenden Antisemitismus spitzt sich die Lage für die Familie in Polen zu. Und als die Deutschen einmarschieren, wird ihre Situation vollends prekär.

Wer kann, flieht nach Osten, Richtung Lemberg, das zur Sowjetunion gehört. Dort finden sich, nach teilweise abenteuerlicher Flucht und mit gefälschten Pässen, Rena, Hesio und Rudek wieder, Nusek und Wela ziehen weiter nach Kiew. Auch Rudek und Rena werden beim Vorrücken der Deutschen Lemberg verlassen. In Tarnow bleiben nur die Eltern zurück sowie Rudeks Frau mit Kind. In lapidaren Sätzen erfahren wir: Das Kind wird gerettet, Rudeks Frau in Auschwitz vergast, Nathan erhängt sich, Rywka endet im KZ Stutthof, genauer im nahe gelegenen Meer, an dem sie so gerne Ferien gemacht hätte.

Scharfe Schnitte

Lozinski erzählt die Familiengeschichte lakonisch, in kurzen Kapiteln, die die Namen der Personen tragen und deren jeweilige Perspektive und Situation wiedergeben. Rasche Szenenwechsel und scharfe Schnitte erinnern an die Drehbuchtechnik und sorgen für Spannung. Zudem gelingt es dem Autor, auch dem Tragischen eine leichte, mitunter humorvolle Note zu verleihen – durch jüdische Witze, komische Details, slapstickhafte Alltagsepisoden.

Auf tiefsinnige Reflexionen wird zugunsten griffiger Sentenzen oder Talmud-Zitaten verzichtet. Allenfalls stellt sich einer die Frage, was gewesen wäre, wenn es Marx nicht gegeben hätte und «weder Hitler noch Stalin geboren worden wären».

Mikolaj Lozinski, Jahrgang 1980, will es weder mit den Romanen der Überlebenden des Warschauer Ghettos (wie jenen von Hanna Krall) aufnehmen noch die heroische Opferhistorie fortschreiben. Freilich gerät seine Mischpoche in den Strudel der Geschichte, doch registriert sie deren Gefahren eher mit Verwunderung als mit Angst: so wenn in Tarnow Parolen wie «Juden nach Madagaskar!» ausgegeben werden oder im scheinbar sicheren sowjetischen Lemberg keine Stadtpläne und Telefonbücher zu haben sind.

Das Unheil kommt schleichend, bis es monströse Formen annimmt. Diese zeigt uns Lozinski nicht, er vermeidet Drastik und Pathos. Wie Roberto Benigni in seinem KZ-Film «La vita è bella» erzählt er behutsam, mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Wobei er uns nicht die gesamte Geschichte der Stramers präsentiert. Einige Schicksale bleiben offen. Zu hoffen ist, dass der Autor in einer Fortsetzung den Spuren der verbliebenen jüdischen Familie folgt, mit derselben Delikatesse und derselben Klugheit, die seinen «Stramer»-Roman zum Ereignis machen.

Mikolaj Lozinski: Stramer. Ein Familienroman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 411 S., Fr. 36.90.

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